Ein erster Blick auf die Zukunft des Bayerischen Staatsballets: Der neue Direktor Laurent Hilaire spricht über seine Arbeit.
Laurent Hilaire im Interview
»Wenn es diesen Zusammenhalt gibt, ist alles möglich«
Und abermals folgt er Igor Zelensky: diesmal ganz schnell und ad hoc als Direktor des Bayerischen Staatsballetts. Denn Zelensky verließ, dazu genötigt wegen seiner lauen Verbindungen zu Wladimir Putin und seiner Weigerung, politisch Stellung zu beziehen, am 4. April das Haus, sein Heim und die Stadt. Schon einen Monat präsentierte Kunstminister Markus Blume den Nachfolger: Laurent Hilaire. Ein Gewächs der Pariser Oper, eines der ganz großen Traditionshäuser Europas; ebendort brillierte Hilaire 20 Jahre lang als Danseur Etoile, ernannt von Rudolf Nurejew nach einer »Schwanensee«-Aufführung 1985. Danach arbeitete Laurent Hilaire an der Seite von Ballettchefin Brigitte Lefevre dortselbst als Ballettmeister, bis er 2017 Igor Zelenskys Posten als künstlerischer Leiter des Stanislawski-Balletts in Moskau übernahm. Zelensky ist weg. Hilaire ist da. Im Ballettbüro am Platzl waltet nun ein schöner, hochgewachsener Mensch, freundlich und zugewandt, ausgestattet mit jeder Menge Erfahrung und einem klaren Blick. Revolutionen sind von ihm allerdings nicht zu erwarten. An geschätzten Choreografen nennt er die heute üblichen Verdächtigen. Ansonsten: erst einmal sondieren, wozu das Publikum bereit ist. So hat er es auch in Moskau gehalten.
Eva-Elisabeth Fischer: Wie fühlen Sie sich?
Laurent Hilaire: Gut. München ist eine schöne Stadt, eine europäische Metropole. Mir gefällt es hier.
Wann hat man Sie angerufen?
Ende März oder Anfang April. Ich weiß es gar nicht mehr so genau. Ich war jedenfalls schon einige Wochen zurück in Frankreich.
Das war ein glücklicher Zufall. Warum sind Sie weg vom Stanislawski Ballett in Moskau?
Wegen der ganzen Situation, die immer unerträglicher wurde.
Es war meine Wahl als freier Bürger, Russland zu verlassen. Hat man Druck auf Sie ausgeübt?
Nein, es war meine freie Entscheidung.
Sie haben bewusst riskiert, eine Zeitlang arbeitslos zu sein?
Ja.
Haben Sie das Bayerische Staatsballett gekannt?
Ja, denn Sie wissen ja: Die Ballettwelt ist klein. Und die sozialen
Medien tragen das Ihre dazu bei. Ich hatte ein gutes Gefühl. Und einige Tänzer habe ich schon vorher gekannt. Man kann eine Kompanie aus verschiedenen Perspektiven beurteilen. Das Bayerische Staatsballett hat einen guten Ruf: starke Tänzer, ein tolles Haus und Tradition. Hinzu kommen eine große Bühne und ein großes Orchester. Das hat mich gereizt. Das ist genau das, was ich von Paris her kannte. Damit bin ich groß geworden.
Sie hatten, als Sie unterschrieben, aber noch keine Aufführungen gesehen.
Nein.
Als Igor Zelensky hier anfing, machte er Tabula rasa und hat knapp die Hälfte der Kompanie ausgetauscht. Haben Sie Ähnliches vor?
Es gibt dafür keinen Grund. Was ich von den Tänzern erwarte, ist folgendes: Sie müssen arbeiten, sich einbringen. Sie müssen die Struktur der Kompanie akzeptieren und einen Zusammenhalt entwickeln. Wenn es diesen Zusammenhalt gibt, ist alles möglich. Mein bisheriger Eindruck ist – ich habe bisher vier Vorstellungen gesehen –, dass es ein Verlangen gibt und einen gewissen Respekt. Sie müssen wissen, dass ich für sie arbeite, für das Theater, für das Bayerische Staatsballett. Man arbeitet daran, noch mehr Kraft, mehr Charakter und mehr Identität zu erlangen. Das ist das Ziel meiner Arbeit mit den Tänzern. Die Qualität der Tänzer liegt in der Vergangenheit, in dem, was sie bisher gemacht haben. Darauf baue ich in meiner Arbeit auf, um ihre Qualitäten zu fördern. Ich habe alle Ballettmeister kennengelernt und finde, dass sie ein gutes Team sind.
Yana Zelensky ist noch da. Wird sie bleiben?
Ja, sie hat einen Vertrag als Ballettmeisterin, den sie erfüllt.
Unterrichten Sie auch?
Nein, aber ich schaue mir das Training an, ebenso die Proben und in etwa 95 Prozent der Vorstellungen.
Es gibt verschiedene Arten, eine Kompanie zu mehr Leistung zu beflügeln – entweder, indem man die Konkurrenz befeuert oder den Ensemblegeist befördert. Was ist Ihr Weg?
Das Ballett ist eine Künstlerwelt. Es geht nicht um Konkurrenz, sondern darum, mit jedem Einzelnen zu arbeiten – egal, ob es sich um einen Solisten oder einen Gruppentänzer handelt. Das Ziel ist, eine Aufführung zu verbessern. Meine Erfahrung als Tänzer ist: Wenn du die Möglichkeit siehst, als Persönlichkeit zu wachsen, indem du mutig eine Tür für dich öffnen musst, schreckt so mancher davor zurück. Ich bin kein Psychologe, aber ich möchte einem Tänzer die Tür zu einer neuen Erfahrung öffnen. Deshalb schaue ich mir möglichst alle Vorstellungen an, um abermals Standpunkte zu überdenken. In dieser Hinsicht ist es egal, ob es sich um eine zeitgenössische Choreografie oder einen Klassiker handelt – es geht stets um die jeweilige körperliche Erfahrung.
Ist es nicht generell besser, den Tänzer als schöpferischen Menschen zu betrachten denn als Befehlsempfänger? Bill Forsythe hat vor Jahren sowohl in Paris als auch London bemängelt, dass die Tänzer mehr Erfüllungsgehilfen denn eigenständig denkende Persönlichkeiten seien.
Wenn man springen will, muss man bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Gleichzeitig glaube ich an die Kreativität des Tänzers. Als Forsythe 1987 mit neun Tänzern an der Pariser Oper »In the Middle, somewhat Elevated« kreierte, hat er uns richtiggehend angetrieben. Und wir wollten das, weil da so ein Vertrauen war, eine besondere Beziehung. Auch wenn wir gerade nicht dran waren, standen wir in den Gassen und schauten zu. Ich glaube an diese Art von Vertrauen. Denn dann können Dinge einfach passieren.
Sie sind in einer reichlich schwierigen Situation hier, denn erst einmal müssen Sie Igor Zelenskys Pläne für die nächste Spielzeit abarbeiten, ohne entscheidend eingreifen zu können. Wieviel Spielraum lässt Ihnen das?
Das ist eigentlich ein normaler Vorgang. Ich mache dann eben das Programm für die Spielzeit danach.
Wie wollen Sie das Repertoire gewichten?
Mir geht es um Identität, um die Erkennbarkeit der Kompanie. Die will ich befördern und stärken durch das Repertoire, das der einzelne Tänzer dank seiner Kreativität mitgestalten kann. So wie das Forsythe getan hat. Wir haben heutzutage eine Menge guter Choreografen …
Welches sind Ihre Favoriten?
… ich kann Ihnen eine Liste geben (lacht). Ich habe als Tänzer in so vielen verschiedenen Stücken getanzt. Die Leute haben mich immer wieder nach meinem Lieblingschoreografen gefragt: Ich habe keinen. Ein guter Choreograf ist für mich jemand, der seine eigene Welt entwirft in seiner eigenen Sprache. Ich mag Sharon Eyal, Hofesh Schechter, Alexander Ekman, Pina Bausch. Es ist eine diverse Landschaft: Ich mag Forsythe, aber auch Roland Petit. Oder Angelin Preljocaj. Es war für mich hochbefriedigend, mit Jiri Kylian zu arbeiten …
Ist es für eine Kompanie nicht wichtig, eine eigene Signatur zu entwickeln? Was könnte die für München sein?
Die Auswahl der Leute, die hierherkommen, der Spielplan, aber auch die Art der Ausführung. Bei den Franzosen ist das die Beinarbeit. Und was macht das Besondere am Royal Ballet oder dem New York City Ballet aus? – Ich möchte meine Erfahrung einbringen, die ich in all den Jahren in Paris gesammelt habe, zum Beispiel die Präzision. Die Qualität einer Bewegung ist dann gut, wenn sie vom Publikum leicht gelesen werden kann. Als Ballettmeister setzt man Prioritäten in der täglichen Arbeit. Als ich das erste Mal fürs Royal Ballet tanzte, war ich
fasziniert von der darstellerischen Tradition. Bei den russischen Kompanien beeindruckten mich speziell die Ports de bras. Der Tänzer und Choreograf Pierre Lacotte hat mal zu mir gesagt: »Vor 30, 40 Jahren war das bei uns genauso. Weißt Du, auch wir haben Arme in Frankreich.« Zur Qualität der Bewegung gehört aber noch etwas …
… Das Hirn. (herzliches Gelächter) Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland. Frankreich hat eine uralte Balletttradition. Deutschland nicht. Beeinflusst das Ihre Arbeit?
Nein. Du kommst ins Studio, schaust auf ein unbeschriebenes Blatt. Bei einer der Vorstellungen sah ich die Energie und wie sehr die Leute involviert waren. Es gibt Dinge, die man verbessern kann, worüber ich mit den Ballettmeistern sprechen werde. Nun, es ist ein unbeschriebenes Blatt – lasst es uns anpacken! Was ich an meiner Position mag ist, dass man – man könnte das vielleicht für ein wenig naiv halten – einen Menschen vor sich hat. Man hat Leute vor sich, die auf etwas Gutes hinarbeiten. Sie wollen auf die Bühne, sie wollen wachsen. Manchmal muss man ein bisschen nachhelfen, manchmal muss man zuhören, worauf der Tänzer hinauswill. Es ist dieses menschliche Verhältnis, das die Beziehung zum Ballettmeister und Choreografen ausmacht. Es ist eine bestimmte Sensibilität, die etwas geschehen lässt … (den zweiten Teil des Satzes flüstert er eindringlich) möglicherweise Großes. ||
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