Abbas Khider lässt in seinem neuen Roman »Der Erinnerungsfälscher« Realität und Fiktion ineinander verschwimmen und rettet seinem Protagonisten damit das Leben.
Abbas Khider – Der Erinnerungsfälscher
Heilmittel und Selbsttäuschung
Wieso er zu einem Therapeuten solle, ist dem Schriftsteller Said Al-Wahid rätselhaft. Eigentlich wollte er nur ärztlichen Rat, weil er das Gefühl hat, dass seine Gedächtnisleistung nachlässt. Erst konnte er sich an Namen nicht mehr erinnern – der Anwalt, der ihm vor Jahren nach seiner Flucht aus dem Irak zu einer unbegrenzten Aufenthaltsgenehmigung verhalf, ist nur noch »der Junge mit den schneeweißen Zähnen«, der Sachbearbeiter im Landratsamt Herr »Jahreszeit«, weil Said nicht mehr genau sagen kann, ob er Winter oder Herbst hieß. Der half ihm, trotz fehlender Dokumente aus dem Irak eine Geburtsurkunde für seinen in Deutschland geborenen Sohn zu bekommen.
Dann erinnerte er sich partout an Schulkameraden nicht mehr, die sich ihm bei einem Besuch in seiner Geburtsstadt Bagdad freudig vorstellten, und muss sich selbst eingestehen: »Was in den vergangenen drei bis sechs Monaten geschehen war, das konnte er zum großen Teil und auch lückenlos wiedergeben. Doch das vergangene Leben? Er hatte keine Ahnung.« Die fehlende Erinnerung löst eine Schreibblockade aus.
Die Gedächtnislücken sind für den Protagonisten in Abbas Khiders Roman »Der Erinnerungsfälscher« ein unüberbrückbares Dilemma. Wenn er sowohl Zusammenhänge als auch Details vergessen hat und obendrein unsicher ist, ob er den vorhandenen Erinnerungen trauen kann, was soll er dann schon aufschreiben? »Said Al-Wahid scheiterte bei jedem Versuch, einen längeren Text zu verfassen. Es war grauenhaft.« Realität und Fiktion stehen für ihn miteinander in Konflikt.
Für Khider allerdings besteht hier keinesfalls ein Widerspruch. Ausgehend von einem Anruf aus Bagdad lässt er Said nach Jahren in Berlin nach Bagdad zurückkehren – die Mutter liegt im Sterben. Auf seiner Reise entfalten sich die Erzählstränge aus ineinander verschachtelten Erinnerungen an den Vater, der eines Tages plötzlich festgenommen wurde und nicht mehr wiederkehrte, an das Stigma des Verräters, mit dem die Familie fortan leben musste, und an seine eigene Flucht aus einem Land, das ein Diktator zu einem Gefängnis gemacht hatte.
In gleichermaßen bildhafter und genauer Sprache erzählt Khider von diesem entwurzelten Mann, der in ein ihm unbekanntes Land zurückkehrt und schon lange beschlossen hat, dass Berlin die erträglichere Fremde ist. In luftigen Gedankenschleifen lässt er Said über seine Fluchterfahrung sinnieren, über existenzielle Heimatlosigkeit und Rassismus, der ihm überall entgegenschlägt, selbst in seiner Geburtsstadt, als er mit deutschem Pass zurückkehrt. Er tut dies unsentimental, doch immer wieder mit bürokratischem Witz, nur so sind die vielen großen und kleinen traumatischen Erlebnisse für Said greifbar.
Hier die Besprechungen zu Abbas Khiders Romanen »Palast der Miserablen« und »Ohrfeige«
Er befolgt den Rat des Hausarztes nicht, sich an eine Einrichtung für Folteropfer zu wenden. Doch er beginnt zu recherchieren und diagnostiziert bei sich selbst Erinnerungsverfälschung, das unbewusste Ergänzen und Verfremden der eigenen Gedächtnisinhalte. Er beschließt, dass diese lückenhaften und oft widersprüchlichen Erinnerungen ihm künstlerische Freiheit verschaffen. Ob er seine traumatischen Erlebnisse dadurch auf ein erträgliches Maß schönt? Gut möglich, doch auch diese Fassung lässt beim Lesen immer wieder stocken angesichts der vielen kleinen wie großen Ungerechtigkeiten und Unsäglichkeiten, denen er ausgesetzt war und ist. Dass Abbas Khiders eigene Biografie der seines Protagonisten ähnelt, ist dabei nur eine von vielen Ebenen, die in dieses kluge Konstrukt mit hineinspielen. Schicht um Schicht wächst seine Geschichte als Palimpsest aus Erinnerungsschichten und Dazugedichtetem und nicht mal Said selbst weiß genau, wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion liegt.
Die wird immer unbedeutender, denn die Wahrheit und Wahrhaftigkeit seiner Identität hängen nicht von objektiver Realität ab. Said überschreibt seine Erinnerungen, ordnet und verwebt sie neu, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Damit macht Khider diesen kurzen und doch so prägnanten Roman zu einer heilenden und selbstwirksamen Reflexion für Said und die literarische Kunst der Täuschung zu nichts weniger als einer Lebensretterin – die trotz der schweren Themen den Optimismus nicht aus dem Auge verliert. ||
ABBAS KHIDER: DER ERINNERUNGSFÄLSCHER
Hanser, 2022 | 128 Seiten | 19 Euro
LESUNG MIT ABBAS KHIDER
Literaturhaus München | Salvatorplatz 1
22. Juni | 20 Uhr | Tickets: 15 Euro, ermäßigt 10 Euro
Weitere Literaturkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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