Tim Roth brilliert in Michel Francos »Sundown« als einer der entspanntesten Soziopathen der Filmgeschichte.
Sundown – Geheimnisse in Acapulco
Passiv-aggressive Gelassenheit
Der Kapitalismus ist wie ein Geschwür in den Filmen des mexikanischen Filmemachers Michel Franco. Dieser Tumor streut unablässig und Franco hält gnadenlos drauf, auf die immer weiter zerfressene Kehrseite dieser Welt aus Schönheit und Reichtum. In seinem neuen Film »Sundown« ist er stiller Beobachter einer sprichwörtlichen Ruhe vor dem Sturm. So wirkt der totale Stillstand, in dem sich der Brite Neil Bennett mit seiner Schwester und deren Kindern im Mexikourlaub befindet. Gelangweilt dümpeln die vier im sonnenglitzernden Pool des Luxusresorts, trinken schon vormittags Cocktails mit Salzrand und lassen sich abends von den einheimischen Hotelmitarbeitern dicke Steaks braten.
Dass Alice ständig am Handy hängt, fällt erst gar nicht auf, doch sie hält Tag und Nacht Kontakt mit dem Familienunternehmen, das sie zu Hause mit eiserner Hand führt. Es knistert unter der von Hitze betäubten Erholungsoberfläche, und das Verhältnis der vier zueinander befindet sich in einer merkwürdig beunruhigenden Schwebe. Alice und Neil könnten ein entfremdetes Ehepaar sein, das nur noch die gemeinsamen Kinder zusammenhalten, aber auch ein Geschwisterpaar, gefangen in einer funktionalen Hassliebe. Franco braucht für dieses Unbehagen kaum Dialog, der Langmut seiner Einstellungen und das zurückhaltende Spiel von Tim Roth und Charlotte Gainsbourg lassen eine unterschwellig brodelnde Atmosphäre entstehen.
Ein Anruf bringt die Blase der aufgesetzten Glückseligkeit zum Platzen – die Matriarchin ist gestorben und Alice will so schnell wie möglich zurück. Neil schlurft teilnahmslos hinter der aufgelösten Schwester her. Am Flughafen lässt er dann ebenso beiläufig den nächsten Affront los: Er habe seinen Reisepass im Hotelsafe vergessen und müsse zurück. Er käme dann mit dem nächsten Flieger nach. Neil steigt in ein Taxi, ruft nur »Hotel!« – kein bestimmtes, irgendeines – und lässt die kommenden Tage und Wochen an einem überfüllten Touristenstrand an sich vorbeiziehen, auf einem Plastikstühlchen sitzend, eine Kühltruhe voller Bier neben sich.
Dieser Neil Bennett, er ist in seiner passivaggressiven Konsequenz einer der unerhörtesten und zugleich verständlichsten Soziopathen der neueren Filmgeschichte. Sein Erbe interessiert ihn nicht die Bohne, er will bloß seine Ruhe. Manch einer wird Tim Roth in dieser alle Dramen schluckenden Gelassenheit kaum eine Performance zusprechen, doch die Seelenruhe, mit der er Neil alle vermeintlichen Probleme weglächeln lässt, ist schlichtweg atemberaubend. Selbst als Alice zurückkehrt und »Was zur Hölle ist los mit Dir?« brüllt, zuckt er nur leicht mit den Schultern und schlurft matt lächelnd in seinen ausgelatschten Flipflops zurück ins Hotel. Dass Franco dieses massive Familien- und Kapitalismusdrama wie sein Protagonist einfach ausblendet, ist ebenso radikal wie amüsant.
Zum Ende hin scheint Franco Alice dann doch eine Antwort anbieten zu wollen und gibt Hinweise darauf, weshalb Neil sich verhält, wie er es tut. Doch am besten ist »Sundown« in genau jenen Momenten, die nicht erklären, sondern einfach nur mit Neil am Strand verweilen, der Flut dabei zuschauen, wie sie langsam seine Füße erreicht und dieser von der Mühle des Familienunternehmens befreite Mann sich überlegt, wie er den Rest seines Lebens verbringen möchte. ||
SUNDOWN – GEHEIMNISSE IN ACAPULCO
Mexiko, Frankreich, Schweden, 2021 | Drehbuch und Regie: Michel Franco | Mit: Tim Roth, Charlotte Gainsbourg, Iazua Larios, Henry Goodman | 83 Minuten | Kinostart: 9. Juni
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