Zum Olympia-Jubiläum blicken viele zurück: Die Stadt hat sich zu den Olympischen Spielen neu erschaffen. Diverse Ausstellungen und Bücher erzählen die Geschichte(n) dieses Weltwunders.

Olympia ’72

Regenbogen über München

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Menschen und Fahnen: Im Olympiapark sollten sich Architektur und Natur zu einer »gebauten Landschaft« verbinden – in der Gestaltung von Günther Grzimeck gab es keine rechten Winkel, nur beschwingte Wegführungen.

»München war wieder die Stadt geworden, um derentwillen Deutschland in der Welt geliebt wurde«, so rühmte zur Jahrtausendwende Peter Gauweiler, damals – nur mehr – CSULandtagsabgeordneter. Und es ist nicht verkehrt, wenn er die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele 1972 als »Münchens größte und schönste Stunde in diesem Jahrhundert« bezeichnet. Gauweiler war damals das jüngste Mitglied des Stadtrates, und die zitierte Würdigung – um nicht mehr von G. zu sprechen – galt Hans-Jochen Vogel, dem »Motor und Verwirklicher« der Modernisierung Münchens.

Lange ist das her. Eine Olympia-Bewerbung hatte 1964 schon der Zweite Bürgermeister Georg Brauchle ein bisserl erwogen, denn München brauchte ein Sportstadion. Dann trug Willi Daume, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, die Idee an Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel heran. Der war 1960 mit 39 Jahren als jüngster Chef einer deutschen Großstadt gewählt worden und hatte bereits 1963 mit dem SPD-dominierten Stadtrat einen Stadtentwicklungsplan auf den Weg gebracht. Der erste Baustein für eine Zukunft, die 1972 zum Münchner Weltwunder führen sollte, bestand 1965, vor offiziellem Bewerbungsschluss, im Löchergraben. Für die Tunnelröhren, die den öffentlichen Verkehr revolutionieren sollten.

Damit beginnt »Olympia 1972 in Bildern«, die Jahresausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek. Die präsentiert aus ihrer zeitgeschichtlichen Fotosammlung – mit 19 Millionen Bildern die größte in Deutschland – eine Auswahl von 140 Aufnahmen nebst prägnanten Erläuterungen. Angefangen mit der 1966 erfolgreichen Bewerbung von Vogel und Daume: Mit ausschlaggebend waren das Konzept einer Sportveranstaltung der kurzen Wege und das begleitende Kulturprogramm. Ein eindrucksvolles Motiv erinnert an die großen Leistungen der Stadtentwicklung: »München wird moderner« steht auf einer städtischen Plakattafel zum U-Bahn-Bau, dahinter heruntergekommene Häuser ohne jeden Belle-Époque-Charme mit offenen Wunden; man erschrickt fast über das Datum 1969, der Krieg 1945 lag noch nicht lange zurück. Bundesbahn, Stadt und Münchner Tunnelgesellschaft hatten seit 1965 schon allerhand gebaut, denn die Spiele beschleunigten alles: Das S-Bahn-Netz ging im Mai 1972 in Betrieb, die U-Bahn zwischen Goetheplatz und Kieferngarten wurde im Oktober 1971 eröffnet. Damals war neben dem rasanten Zuzug in das »Millionendorf« der Verkehr das drängendste Problem, die Autos bremsten Tram und Bus aus: es ging zu »wie am Stachus«, dem seinerzeit verkehrsreichsten Platz Europas, bevor 1972 die Bahnen kamen nebst Einkaufszentrum im Untergeschoß und die Fußgängerzone eröffnet wurde. Heute hat allein die U-Bahn 100 Bahnhöfe und 1 Million Passagiere pro Tag.

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Netzmontage: Bei den Montagearbeiten für das Zeltdach verschraubten die Arbeiter die Stahlseile alle 75 Zentimeter, sodass ein dichtes Netz entstand – aus insgesamt 137 000 »Knoten«.

Die Ausstellung widmet sich sodann der Umgestaltung des Oberwiesenfelds zum Olympiagelände, natürlich dem einzigartigen Zeltdach, dem Design von Otl Aicher, dem Kulturprogramm und dem TV-Massenereignis sowie dem Attentat. Wörtlich im Mittelpunkt der Präsentation im ersten Stock der Staatsbibliothek steht ein Modell des Geländes. Ein Hostessenkleid und eine Mitarbeiteruniform sind Zeugnisse der Gestaltung Aichers. Die Spirale mit Strahlenkranz als offizielles Emblem hatte der Kölner Grafiker Coordt von Mannstein entworfen. Die gesamte Kommunikation freilich oblag Otl Aicher und seinem Team – systematisch wurde an alles gedacht. Aicher schuf die legendären, weil weltweit verständlichen Signete.

Es sollten fröhliche und friedliche, menschliche Spiele werden. Außer den Hilfe leistenden Bundeswehrangehörigen gab es keine Uniformen zu sehen. Die von Aicher mit Hostessenblauem Dienstanzug und Käppi eingekleidete Polizei trug keine Waffen, sondern Funkgeräte. Es sollte auch – wieder ein Wunder – keine Werbung geben: von Coca-Cola war nichts zu sehen. Aicher war radikal in seinen Konzepten und blieb fest gegenüber Einwendungen durch Olympiafunktionäre, Politiker und Lobbyisten. Er wollte nicht national, sondern menschlich denken, weshalb die Nationalflaggen nur am Rande Platz fanden, als Blickfang aber überall die Flaggenpulks wehten, in den Farben der bayerischen Landschaft und des Himmels. Schon vorab hatte Aicher sein Farbkonzept entwickelt – Hellblau, Hellgrün, Gelb, Dunkelblau, Dunkelgrün, Orange –, mit dem Ausschluss aller Farben, die Macht repräsentierten: den Reichs- und Nazi-Farben Schwarz und Rot, dem königlichen Gold, dem Purpur der Kardinäle. Die systematische Gestaltung von Aicher und seiner rechten Hand Rolf Müller im Team der »Abteilung 11« des Organisationskomitees folgte nicht Hierarchien, sondern ermöglichte Variationen von Elementen, um Leichtigkeit und Heiterkeit zu erreichen. Bestes Beispiel ist neben den durchaus farbstarken Plakaten das Olympia-Maskottchen Waldi, an dem auch Mitarbeiterin Elena Winschermann beteiligt war, die die meisten Souvenirs betreute.

Quietschbunt dagegen prangte auf vielen Werbemitteln im Vorfeld der Spiele ein fröhlicher Regenbogen. Denn nicht nur die Lizenznehmer des offiziellen Spiralen-Emblems hofften auf gute Geschäfte. Es gab natürlich auch diverse Kritiker des Großereignisses, die weiter und prinzipiell protestierten. Beim Carl Hanser Verlag erschienen in der avantgardistischen gelben »Reihe Hanser« die kapitalismuskritische Analyse »Soziologie der Olympischen Spiele« von Ulrike Prokop sowie »Anti-Olympia. Ein Beitrag zur mutwilligen Diffamierung und öffentlichen Destruktion der Olympischen Spiele und anderer Narreteien« von dem Übersetzer Hans-Horst Henschen und dem Münchner SDS-Mitglied und Juristen Reinhard Wetter inklusive einem Bilderbogen von der Projektgruppe Raum 86, München. Andersherum wollte der Münchner Amtsrichter und Autor Herbert Rosendorfer vom Olympiajahr profitieren: »Herbert Rosendorfer’s Aechtes Münchner Olympiabuch« im Biederstein Verlag bot humoristisch »Eine Einführung in das Wesen der Olympiastadt und den Geist der Bewohner, einschließlich der Beschreibung aller bayerischer Sportarten, die bei den Olympischen Spielen fehlen« – vom Eisstockschießen über das Fensterln und WolpertingerFangen bis zum Maßkrugstemmen und zum Grantln. Der Münchner Bäckerssohn, Lehrer und Newcomer im Hanser-Verlag Paul Wühr hatte eine »Olympische Hymne« geschrieben, die als Plakatdruck auf der Kunstmeile der Leopoldstraße verkauft wurde. Diese Poesie spricht auch von Gewalt und Blutvergießen: »auf der Zielgeraden der Lauf / in
den Tod […] / am Tag / als Blut fließt«.

Zurück zu unserem Münchner Weltwunder. Denn als solches erweist sich die Dreiheit dieser Münchner Spiele: die Kommunikationsgestaltung durch das Team Otl Aichers, der Landschaftspark auf dem Schuttberg (aus Weltkriegstrümmern) – von seinem Schöpfer Günther Grzimek beschildert »Dieser Rasen darf betreten werden« – sowie natürlich die Sportstätten mit ihrem Zeltdach und dem autofreien Olympischen Dorf. Ob das Dach überhaupt gebaut werden könnte, war beim Wettbewerb und Zuschlag nicht klar; jedes Element und jede Verankerung mussten individuell hergestellt werden: ein ästhetisches Meisterwerk und ein Wunder der Ingenieurskunst. Garantieren konnten, eher ins Blaue hinein, die Architekten Behnisch und Partner nur für 10 Jahre Haltbarkeit. Immerhin sollten die Acrylglasplatten dieses Spinnennetzes einer Schneelast von 5 Metern Höhe standhalten. Und wie wurde dieses mehr als mutige Projekt finanziert? Die Gesamtkosten vervierfachten sich von 1965 geplanten 495 Millionen Mark auf 1,92 Milliarden; das Zeltdach allein erforderte statt 17 Millionen schließlich 115 Millionen Mark.

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»Dieser Rasen darf betreten werden!«: Ein Münchner Paar bestaunt die im Juli 1972 bereits fertige Zeltdachkonstruktion mit ihren Acrylglas-Platten. | © Bayerische Staatsbibliothek
München/Bildarchiv/Karsten de Riese

Olympia-Lotterie und Glücksspirale bei Lotto und Toto sowie Sonderbriefmarken erbrachten einiges. Und man ließ nicht Geld drucken, sondern prägte Münzen: Von den für diesen Ausnahmefall gefertigten 10-DM-Sonderprägungen mit dem Motiv der Spirale verkaufte man 100 Millionen, was schließlich einen Reingewinn von 731 Millionen abwarf. Dieses interessante Spezial-Kapitel kann man in der Staatlichen Münzsammlung in der Residenz studieren; dort gibt es neben interessanten 1972er-Devotionalien und Zeitgeist-Dokumenten auch eines der seltenen originalen Architekturmodelle von 1972 zu sehen.

Zum diesjährigen Jubiläum blicken viele zurück. Für »München 1972. Wie Olympia eine Stadt veränderte« hat Karl Stankiewitz, mit 94 Jahren dienstältester Journalist in München, eigene Erinnerungen und sein Archiv als damaliger Berichterstatter genutzt. Viele Fakten vermittelt sein gut illustrierter Rückblick: Zum Beispiel die Dackelparade im Januar 1972 in der Fußgängerzone mit 1000 Zamperln (inkl. OB Vogel) zur Eröffnung der Olympia-Lotterie »Ein Platz im Stadion« oder die Proteste gegen die Bordellblockade durch die Polizei oder das Programm der von Werner Ruhnau konzipierten Spielstraße, die nach dem Attentat schließen musste. Über dessen Einzelheiten und Hintergründe informiert auch das Buch von Regisseur und Autor Markus Brauckmann und Gregor Schöllgen, Historiker, Journalist und Sachbuchautor. »München 72« ist es betitelt – es gibt ja nicht viele prägnante Formulierungen, die man sich noch schützen lassen könnte. Der Untertitel freilich punktet: »Ein deutscher Sommer«. Neben viel Material aus Archiven, das sie verarbeitet haben, um den sozialen und politischen Hintergrund mit auszuleuchten, haben sie auch Interviews mit Zeitzeugen geführt. Etwa mit Gertrude Krombholz, Hostessen-Ausbilderin und selbst Chef-Hostess der Schwimmhalle – weshalb das Buch auch mit den Hostessen startet. Nach einem Vorspiel von 20 Seiten zeichnen die Autoren – gegliedert in Form einer Tageschronik in 17 Kapiteln – die Geschehnisse der Spiele nach, vom 26. August bis zur Schlussfeier am 11. September. Die Erzählung ist um Plastizität bemüht, nimmt immer wieder einzelne Personen in den Blick, flicht passende Details ein. Am 8. September beispielsweise ist das Hauptereignis das Fußballspiel BRD gegen DDR – mit dem 18-jährigen Uli Hoeneß und dem Basler Stürmer Othmar Hitzfeld als Protagonisten –, kontrastiert mit den Nachwirkungen des Terrors.

Das fulminante Kunstprogramm vor Ort und in der Stadt wäre ein eigenes Kapitel dieser heiteren Spiele. Zur abendlichen Abschlussfeier erhob sich über dem Gelände am See ein 130 Meter hoher Regenbogen aus heliumgefüllten Schläuchen in fünf Farben, ein Kunstwerk von Otto Piene, und in farbiger Lichtprojektion erstrahlte auch der Olympiaturm. ||

OLYMPIA 72 IN BILDERN – FOTOGRAFIEN AUS DEN SAMMLUNGEN DER BAYERISCHEN STAATSBIBLIOTHEK
Bayerische Staatsbibliothek | Ludwigstr. 16 | bis 7. Sept.
So–Fr 10–18 Uhr | Virtuelle Ausstellung
Der Begleitband kostet vor Ort 24,90 Euro

ZWÖLF MONATE – ZWÖLF NAMEN. 50 JAHRE OLYMPIAATTENTAT MÜNCHEN
Verschiedene Orte | bis Dez. 2022 | Rundgänge im Olympiadorf, jew. sonntags
Informationen

MYTHOS MÜNCHEN ’72
Staatliche Münzsammlung | Residenz, Eingang Kapellenhof
bis September | Di–So 10–17 Uhr | der schöne Bibliothekssaal ist Mo–Do 9–16 Uhr, Fr 9–14 Uhr zugänglich

DAS FESTIVAL DES SPIELS, DES SPORTS UND DER KUNST
Olympiasee | 1.–9. Juli | Programm

Neue Bücher zum Thema:

OLYMPIA 72 IN BILDERN
Hrsg. von der Bayerischen Staatsbibliothek; Cornelia Jahn u. Katharina Wohlfahrt | Volk Vlg. | 192 S., reich bebildert | 29,90 Euro

KARL STANKIEWITZ: MÜNCHEN 1972. WIE OLYMPIA EINE STADT VERÄNDERTE
Allitera Vlg., 2021 | 254 S., zahlr. Ill. | 25 Euro

MARKUS BRAUCKMANN / GREGOR SCHÖLLGEN: MÜNCHEN 72. EIN DEUTSCHER SOMMER
Deutsche Verlags-Anstalt, 2022 | 364 S. | 25 Euro

 


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