Bruno Dumont hält in »France« seinem Heimatland einen satirischen Zerrspiegel vor.
France
Kontrollverlust zur Primetime
Frankreichs chronisch enthemmter (»L’Humanité/»Twentynine Palms«) wie überraschender (»KindKind«/Jeanne d’Arc«) Regiesolitär Bruno Dumont zählt bereits seit der Jahrtausendwende zu den innovativsten und experimentierfreudigsten Stimmen des Weltkinos, dessen Filme bereits zweimal mit dem prestigeträchtigen Grand Prix du Jury in Cannes prämiert wurden. Gerade weil sie sich sperrigen Thematiken widmen, gängige Seherfahrungen hinterfragen und oft genug mit Laiendarstellern besetzt sind. Zudem setzt der 1958 geborene Philosoph des europäischen Autorenkinos auf einen spezifischen Realismus, der vom Dreh an Originalschauplätzen zehrt, aber nie in die Nähe des soziologisch konnotierten Realismuskonzepts der nicht weniger ausgezeichneten Dardenne-Brüder zielt. Stattdessen fußt Dumonts extravagante Filmkunst sowohl auf direkt aufgenommenem Ton als auch auf der Kunst der Repräsentation im Kino, die Spiritualität, Konzentration wie Überforderung unbedingt miteinschließen, um so den Kinosaal im Anschluss in einem wirklich veränderten Seelenzustand zu verlassen.
In dieses aufsehenerregende und genrespezifisch ausgesprochen fabulierfreudige Regiekonzept fügt sich ebenso dessen neuester Filmcoup mit dem doppeldeutigen Titel »France«. Darin hält der ungläubige und überbordend satirisch zuspitzende Dumont seinen stolzen Landsleuten erneut den Zerrspiegel mitsamt Brecht’schen V-Effekten lustvoll vor. Dafür mischt er klassische Elemente des Melodrams, der Groteske, der Tragödie und des absurden Dramas in unnachahmlicher Weise zusammen, bis entweder das Herz der Cinéphilie höher schlägt oder man entnervt das Weite sucht. All diese narrativen Stränge kreisen um die titelgebende France de Meurs (imposant: Léa Seydoux), die als narzisstische Starjournalistin allabendlich ein Millionenpublikum mit ihren Reportagen und Moderationen im Fernsehen beglückt. Egal ob als Kriegsreporterin, Familienoberhaupt oder toughe Fragestellerin gegenüber Monsieur le Président höchstpersönlich: Scheinbar reitet sie unentwegt auf einer Welle des Glücks. Erst durch einen Verkehrsunfall, bei dem sie einen Rollerfahrer verletzt, gerät ihre wohlsortierte Erfolgswelt mächtig ins Wanken, sodass sie zur Genesung im pompösen Schloss Elmau am Fuße des Wettersteingebirges landet, wo sie die seltsame Mme Arpel (Juliane Köhler) kennenlernt und prompt von einem skurrilen Fremden (Emanuele Arioli) angebaggert wird.
»France« fungiert als französische Identitätsparabel genauso gut wie als zynisch-hyperrealistisch verzerrte Mediensatire und beweist so ein weiteres Mal eindrucksvoll, dass sich bei Bruno Dumont autoreflexives Autorenkino, Douglas-Sirk’sche-Melodramatik und irrlichternde Till-Eugenspiegel-Manier galant die Hände reichen: C’est totalement extraordinaire. Chapeau! ||
FRANCE
Frankreich/Deutschland/Italien/Belgien 2021
Regie: Bruno Dumont | Mit: Léa Seydoux, Juliane Köhler, Emanuele Arioli u.a. | 133 Minuten
Kinostart: 2. Juni
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