»Osteuropa gleicht einem Fegefeuer«. Diese Zeile findet man im Libretto der Oper »Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr«, das der ukrainische Autor Serhij Zhadan geschrieben hat – vor etwa zwei Jahren. Heuer ist das zusammen mit Bernhard Gander entstandene Werk auf der Münchener Biennale zu sehen.

Serhij Zhadan & Bernhard Gander: »Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr«

»Osteuropa gleicht einem Fegefeuer«

serhij zhadan

Serhij Zhadan schreibt für die Freiheit © Ekko Schwichow SV

Die 18. Münchener Biennale, die im Mai stattfinden wird, hat als internationales Festival für neues Musiktheater Komponist*innen und Autor*innen aus vielen Nationen eingeladen, über »Good Friends«, über persönliche wie politische Freundschaften nachzudenken und im gemeinsamen Schaffensprozess Allianzen und Verbindungen einzugehen. Welche Tragweite die Idee der »Good Friends« bekommen würde, konnte zum Zeitpunkt der konzeptionellen Entwicklung vor etwa zwei Jahren niemand ahnen. Dass die Kunst die Realität vorwegnimmt, passiert immer wieder, man denke nur an »1984« von George Orwell oder an die Serie »Homeland« über den Nahostkonflikt. Als der ukrainische Autor und Musiker Serhij Zhadan das Libretto für »Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr« schrieb, ausgehend von den existenziellen Herausforderungen des russisch-ukrainischen Verhältnisses, war nicht abzusehen, dass nur Monate später ein erbitterter Krieg zwischen den beiden Ländern herrschen würde.

Zhadan entwirft eine Grenzpostensituation inmitten eines kriegerischen Konflikts – eine Situation, die der Autor aus seinem Militärdienst kannte. Er lebt in Charkiv und kämpft derzeit an der Ostgrenze der Ukraine. Seit Jahren ist er im Widerstand gegen die Separatisten und deren selbst erklärte Volksrepubliken im Donbass aktiv. Immer wieder gab er in den letzten Jahren mit seiner Band »Sobaky w Kosmosi« (Hunde im Weltall) Konzerte vor Soldaten, gegen Putins Politik. 2007 erschien sein Roman »Depeche Mode«, in dem es nicht nur um vier junge Männer in der Absurdität der anarchisch aus dem Ruder laufenden Postsowjetzeit geht, sondern durchaus auch um die gleichnamige irische Band. 2012 schrieb Zhadan wieder ein Buch mit einer Musikreferenz im Titel: Für sein Buch »Die Erfindung des Jazz im Donbass« wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet. Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«, gelobt wurden immer wieder seine romantisch-anarchisch-skurrilen Figuren, die an seltsamen Orten noch seltsamere Dinge tun.

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Bernhard Gander komponiert die Musik dazu © Marion-Luttenberger

Die Musik für die Oper stammt aber nicht von Zhadan selbst, sondern von Bernhard Gander. Der österreichische Komponist, der in Tirol, Paris, Zürich und Graz ausgebildet und mehrfach mit wichtigen Preisen ausgezeichnet wurde, entzieht sich jeglichen Genrezuschreibungen. Nicht nur wegen seiner Frisur und den tätowierten Armen fällt er, der sich auch gern in der Heavy-Metal-Landschaft tummelt, in der Neue Musik-Szene auf: »Die ersten Tattoos habe ich mir stechen lassen, da war ich schon über 40. Das waren drei Totenköpfe. Mit dem Tod ist man immer konfrontiert.« Über Serhij Zhadans Libretto sagt er: »Fiktion war es nie. Dass es aber so aktuell werden würde, damit habe ich nicht gerechnet. Das Libretto hat natürlich eine allgemeine Gültigkeit, aber es ist schon beinhart, wie konkret es jetzt wird. Das Libretto ist ganz anders gelagert als seine Romane, die sind oft von einem angenehm leichten Humor geprägt. Das ist bei dem Libretto nicht der Fall.«

Gander entschied sich, die Musik gewissermaßen kontrapunktisch zu gestalten: »Damit der harte Stoff nicht so überdramatisch daherkommt, habe ich eine etwas leichtere Musik geschrieben. Das wirkt doppelbödiger, darf auch irritieren. Das macht die Sache keineswegs leichtfertig oder gar banal, sondern es macht neue, zusätzliche Ebenen auf. Die Arien sind eher Songs, nicht überkomplex wie viele Stücke in der neuen Musik, so kann man der Musik leicht folgen.« Die fünf Musiker erinnern deshalb teilweise eher an eine Band als an ein Orchester. Man darf gespannt sein, wie Texte wie diese, hier vom »Chor mit Koffern«, vertont klingen: »Hörst du die Stimmen all jener, die es nicht über die Grenze geschafft haben? Die Stimmen der Zurückgesetzten und Entmutigten? Die wütenden Stimmen jener, die der Falle nicht entronnen sind, denen nur wenige Meter bis zur Rettung fehlten? Wie kannst du jetzt schlafen mit diesen Stimmen im Schädel? Wie kannst du jetzt den anbrechenden Morgen beobachten, wissend, dass jenseits des Horizonts jene zurückgeblieben sind, die dem Lauf der Sonne nicht folgen konnten? (…) Osteuropa gleicht einem Fegefeuer. (…) Sei gut zu uns, Geschichte, sei uns gnädig. Entlass uns aus deinen eisigen Fängen. (…) Countdown der Zeit. Sonnenheller Himmel. Die Zeit rinnt uns durch die Finger. Die Zukunft wird geformt aus unseren heutigen Tragödien.« ||

18. MÜNCHENER BIENNALE
7.–19. Mai | Informationen zum Programm | Tickets

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