»Circus« ist eine Aufführung, die nicht in die jetzige Situation zu passen scheint. Clownerie in Zeiten des Krieges mit einem russisch-ukrainischen Ensemble? Anne Fritsch hat sich die Show nicht nur angesehen, sondern auch mit Peter Weil, dem Direktor des GOP Varietés gesprochen.
»Circus« im GOP Varieté
Stoff für Clown-Skeptiker
Es ist beinahe übermenschlich, was das Ensemble der Produktion »Circus« da vollbringt. Physisch zum einen, weil das, was die Artistinnen und Artisten mit ihren Körpern machen, von einer für den Normalmenschen unvorstellbaren Perfektion und Präzision ist. Psychisch zum anderen, weil die meisten von ihnen aus der Ukraine kommen, vom CircusTheater Bingo in Kiew. Sie sind als Künstler hier, vielleicht in Zukunft aber auch als Geflüchtete. Am Tag vor der Premiere im Münchner GOP-Theater wurde das Theater in Mariupol bombardiert, in dem ungefähr 1000 Menschen Schutz gesucht hatten. Und doch oder gerade deswegen: Auf der Bühne des GOP zählt nur die Kunst. Die gibt ihnen Halt in dieser Zeit, ist das Einzige, was noch gewiss ist.
»Circus« war eigentlich schon für Ende 2020 geplant, wurde im zweiten Lockdown noch fertig geprobt, musste dann aber verschoben werden. Damals blieb das Ensemble länger in München als geplant, ohne spielen zu können. Auch jetzt ist mehr als ungewiss, wie die Situation sich entwickelt. Es ist eine Krisenproduktion von Anfang an, aber eine, die sich mit allen Kräften gegen all die Krisen stemmt. Erzählt wird von einer Frau, die aus einem Zug steigt und sich in der bunten, glitzernden und faszinierenden Welt eines Zirkus wiederfindet, den sie für sich entdeckt. Diese Rahmenhandlung ist nicht besonders schlüssig und im Grunde völlig überflüssig. Auch die laute und teilweise aufdringliche Musik stört eher. Denn das Ensemble wirkt für sich in den vielen, wirklich großartigen Einzelnummern. Anton Shcherbyna jongliert die Diabolos so virtuos, dass man an einen Trick denkt, weil es doch einfach nicht sein kann, da ist doch eigentlich die Schwerkraft … Anna Pieies macht das, was früher sogenannte Schlangenmenschen taten und was heute Kontorsion genannt wird: Sie verbiegt ihren Körper, als wären seine Einzelteile nur lose miteinander verbunden, als gälten für ihn andere Regeln als für alle anderen menschlichen Körper. Wenn sie sich nach hinten biegt, bis ihr Kopf ihre Kniekehle berührt, tut das fast weh beim Zuschauen. Ob Hula-Hoop, Polestange oder Vertikaltuch: Alle gehen hier immer noch einen Schritt weiter, fordern ihre Körper und die Nerven des Publikums heraus.
Das Regieteam Igor Protsenko und Irina German hat einen Abend gezaubert, der auch das komische Potenzial des Themas ausschöpft. Ex-Roncalli-Clown Edouard Neumann alias »Eduardissimo«, der schon öfters im GOP zu Gast war, brilliert als Zirkusdirektor. Mit der Ballettnummer, die er gemeinsam mit Alexey Bitkine abzieht, zieht er auch die Clown-Skeptiker im Publikum auf seine Seite. Dass der Russe Neumann, der ebenfalls die Artistenschule in Kiew besuchte, sich so harmonisch und selbstverständlich in das ukrainische Ensemble einfügt, zeigt einmal mehr, wie absurd dieser Krieg ist, der da draußen gerade tobt. Trotz aller glitzernden Leichtigkeit: Irgendwie ist plötzlich alles politisch geworden. Selbst dieser Zirkus. Schlechter macht ihn das keineswegs. Im Gegenteil. Lebt diese Welt doch von der Faszination des scheinbar Unmöglichen, das auf einmal möglich wird. Vielleicht demnächst ja auch in der Welt da draußen. ||
CIRCUS
GOP Varieté-Theater | Maximilianstr. 47
bis 1. Mai | Di bis Fr, 20 Uhr, Sa 17.30 und 21 Uhr, So und Feiertag 14.30 und 18.30 Uhr
Tickets: 089 210288444
»Wenn die 90 Minuten vorbei sind, kommen die Ängste wieder«
Im Münchner Variete GOP arbeiten Artistinnen und Artisten aus der Ukraine und Russland. Anne Fritsch sprach mit dem Direktor des GOP, Peter Weil, über die Auswirkungen des Krieges.
Im GOP-Theater treten viele Künstler*innen aus der Ukraine auf. Wie erleben Sie die Situation?
Zwei Artisten aus unserer letzten Show »Wet« kommen aus der Ostukraine. Mikhail Shashin ist Russe, Dmytro Taratutenko Ukrainer. Die machen »Ikarische Spiele«, einer wirbelt den anderen mit den Füßen durch die Luft. Die sind voneinander abhängig, keiner könnte ohne den anderen als Einzelartist weitermachen. Für die ist die momentane Situation extrem schwierig, Shashin als Russe wird künftig mit starken Reisebeschränkungen leben müssen. Die beiden sind international unterwegs, das könnte längerfristig ihre gemeinsame berufliche Existenz gefährden. Wir haben sie jetzt erst mal in einer anderen Show in einem unserer Theater untergebracht.
Ähnliche Probleme kommen wahrscheinlich auch auf die Künstler*innen der aktuellen Show »Circus« zu.
Ja, die meisten kommen vom ukrainischen Circus-Theater Bingo aus Kiew, das Artisten an die großen internationalen Zirkusse vermittelt. Uns verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit Bingo, drum haben wir ein ganzes Ensemble aus ihrem Künstlerpool engagiert. Diese 13 Künstler*innen haben die Show vorher in unserem Theater in Hannover gespielt, sie waren also schon alle in Deutschland, als der Krieg ausbrach. Einige konnten jetzt Familienangehörige aus der Ukraine holen und bringen sie mit nach München. Wir schauen gerade, wie wir die am besten unterbringen. In unseren Künstlerwohnungen oder über private Kontakte. Die Hilfsbereitschaft ist gerade sehr groß.
Das Theater ist hier also mehr als ein bloßer Arbeitgeber und sieht sich auch humanitär in der Verantwortung?
Ja. Wir versuchen, erst mal möglichst alle in Deutschland zu behalten und weiterzubeschäftigen. Auch im Lockdown haben wir unsere Wohnungen zur Verfügung gestellt, haben für die hier Gestrandeten gekocht. Das ist alles ein bisschen familiärer bei uns. Wir versuchen einfach alles, was möglich ist. In unseren sieben Theatern können wir die Menschen in den nächsten Monaten unterbringen, ihnen finanzielle Sicherheit und Beschäftigung geben.
Wollen die in dieser Situation überhaupt spielen?
Ja. Meine Kollegen in Hannover haben sie das explizit gefragt. Und die Antwort war eindeutig. So haben sie die Möglichkeit, ihren Angehörigen finanziell zu Hilfe zu kommen. Außerdem können sie als Profis auf der Bühne ihre Sorgen ausblenden. Aber wenn die 90 Minuten vorbei sind, kommen die Ängste natürlich wieder. Und ob sie irgendwann wieder unter guten Voraussetzungen zurückkehren können, kann im Moment niemand sagen. ||
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