Regisseur Philip Scheffner inszeniert mit »Europe« einen außergewöhnlichen Europa-Film, der aneckt.

Europe

Fiktion als Widerstand

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Beharrt auf ihrem Platz in der Wirklichkeit Europas: Rhim Ibrir als Zhora | © Grandfilm

Gibt es entgegen Adornos berühmtem Bonmot in Philip Scheffners erstem Spielfilm »Europe« doch »ein richtiges Leben im falschen«? Oder ist alles nur eine punktgenaue wie transgressive Versuchsanordnung im dokumentarischen Spiel-im-Spiel-Modus? Allerdings in einem gleichsam eisigen wie bürokratischen Kontinent, über dem zwar dieselbe Sonne für alle scheint, es jedoch mit der Gleichheit aller Menschen nicht weit her ist. Kamera läuft: Ein Flughafenterminal. Der Bus kommt. Schnitt: Eine Frau namens Zohra sitzt ihrem behandelnden Arzt gegenüber: »Ich verschreibe Ihnen Aquasport.«

Die reale Frau dahinter heißt Rhim Ibrir. Sie ist Algerierin, 32 Jahre alt, und wohnt – wie im Film (Drehbuch: Merle Kröger und Philip Scheffner) – in einem tristen Vorort der französischen Stadt Chatellerault. Dort hat sie nach ihrer Flucht nach Frankreich inzwischen eine Stelle bei einer NGO gefunden, wo sie Kleidung sortiert. »Haben sie dich endlich zusammengeflickt?«, will eine Arbeitskollegin wissen. Denn Zohra leidet an ausgeprägter Skoliose: 14 OPs später, bei der ihr eine Metallstange in den Rücken eingesetzt wurde, scheint sie auf dem Weg der Besserung zu sein. Endlich kann sie schmerzfrei aufstehen und wieder tief durchatmen, wofür Volker Sattel, selbst ausgewiesener Architekturfilmessayist (»La Cupola«), einprägsame Vertikalen und Zentralperspektiven findet. Neues Glück (Der Busfahrer zu Zohra: »Sie sind ein echter Champion«) wie der Glaube an ein freies Leben in Westeuropa scheinen vor ihren Füßen zu liegen, ehe ihr ein zynischer Amtsmensch erklärt, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung nun nicht mehr verlängert wird und ihre »Ausreise« bevorsteht. Während ihr Mann Hocine in Algerien auf ein Visum sowie eine baldige Familienzusammenführung wartet, wird Zohra in ihrer neuen Heimat der Boden unter den Füßen weggezogen. Alles hat sie auf einen Schlag verloren: Wohnung, Arbeit, Freunde, Zukunft. Während die Franzosen um sie herum genüsslich in die Sommerferien aufbrechen, bleibt sie allein mit den Wohnungsschlüsseln anderer zurück und ein rätselhaftes Vexierspiel beginnt. »Der filmische Raum lässt die von außen gesetzten Grenzen verschwimmen und stößt die Tür zu einer Welt auf, in der nichts gesichert ist und alles möglich erscheint. Fiktion als Akt des Widerstands.

Die Hauptdarstellerin weiß mehr als ihr Publikum. Sie beharrt auf ihrem Platz in der Wirklichkeit, in Europa«, erläutert Philip Scheffner im Hinblick auf seinen Berlinale-Hit. Der renommierte Dokumentarfilmessayist (»Revision«/»AndEk-Ghes«) und Professor für Dokumentarische Praxen an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) hatte Rhim Ibrir, die ebenfalls in Berlin war und nun in Frankreich bleiben darf, 2014 im Zuge seiner Recherche zu »Havarie« kennengelernt. »Der Film hört nicht auf, selbst wenn sie (Zohra) den Film verlässt, lebt sie immer noch das, was sie vorher gespielt hat«, sagt sie selbst über diesen außergewöhnlichen Filmhybriden, der bewusst aneckt, hintersinnig erzählt und vorzüglich kadriert ist. Oder kurz: Spielen, was man (er-)lebt (hat), hat man so in diesem Jahr noch nicht besser auf der realen Kinoleinwand erfahren. ||

EUROPE
Deutschland, Frankreich 2022
Regie: Philip Scheffner Mit: Rhim Ibrir, Didier Cuillierier u.a.
109 Minuten | Kinostart: 10. März
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