Eine Entdeckung! Das Stadtmuseum präsentiert das Werk der Fotografin und Bildjournalistin Barbara Niggl Radloff, die das München der 60er-Jahre sowie viele Figurenaus dem Kulturleben höchst einfühlsam porträtierte.

Barbara Niggl Radloff im Münchner Stadtmuseum

Menschenbilder

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Barbara Niggl Radloff: »Erich Kästner (im Herzogpark), München, 1962«

Hannah Arendt lacht. Übers ganze Gesicht. Als ob das nicht schon selten genug wäre, macht sie das auch noch für ein Porträtfoto, das die junge Fotografin Barbara Niggl Radloff (geborene Niggl, 1936 bis 2010) von der politischen Theoretikerin 1958 in München anfertigte. Niggl hatte sie sozusagen aus der Reserve gelockt. Das ist allerdings kein Zufall, bei Niggl wurde es geradezu zur Methode, zum fotografisch-künstlerischen Markenzeichen. Günter Grass stellte sie als Vater mit Sohn im Arm 1958 in Paris dar – wobei sich das Kind dabei mit der Hand am Bettgestell festhält. Weitere Berühmtheiten – die man heute fast etwas vergessen hat – hat sie aufgenommen: Erich Kästner, Heinrich Böll, die Sängerin Lale Andersen, um nur ganz wenige zu nennen.

Besonders bemerkenwert die Aufnahme von Truman Capote, der melancholisch, traurig, unnahbar, und doch sehr direkt und gegenwärtig wirkt. Niggl streifte mit ihm durch den Garten der Pension Biederstein und porträtierte ihn vor Busch und Mauer. Capote, und das kann man auch mitfühlen, war tatsächlich in extremer Trauerstimmung, da sein geliebter Mops in einem New Yorker Krankenhaus mit dem Tode rang.

Nun würdigt eine Ausstellung im Münchner Stadtmuseum unter dem Titel »Vertrauliche Distanz« erstmals das Werk der Fotografin. Möglich wurde dies, weil ihr Nachlass 2018 als Schenkung der Familie an die dortige Sammlung Fotografie ging. 2500 Abzüge und ein Negativ-Archiv mit mehr als 50.000 Aufnahmen erforschte der junge Kunsthistoriker Maximilian Westphal, der eine preisgekrönte Masterarbeit daraus formte – und gemeinsam mit Sammlungsleiter Ulrich Pohlmann die sehenswerte, informative und ästhetisch beeindruckende Ausstellung konzipierte.

Da wird auch das Leben der Fotografin, die ja nur wenige Jahre im aufreibenden Pressegeschäft aktiv war, präsentiert. Es war schon früh ihr Wunsch, Pressefotografin zu werden. Deshalb studierte sie am Institut für Bildjournalismus in München; der Abschluss erfolgte 1957 als »herausragend begabte Schülerin«. Anschließend arbeitete Niggl für Zeitschriften wie »Scala International«, die »Münchner Illustrierte«, die legendäre »Quick« oder die bis heute bewunderte Zeitschrift »Twen«.

Das eröffnete ihr weitere, interessante Betätigungsfelder. Sie realisierte Modestrecken mit Veruschka von Lehndorff, machte Reportagen mit dem erst 20-jährigen Shootingstar Anja Silja oder der Balletttänzerin Konstanze Vernon.

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»Lale Andersen, München, 1962« || © Münchner Stadtmuseum (2)

Die Arbeit führte sie dann auch nach Rom, Paris, Jerusalem, Tel Aviv, Moskau. Dort porträtierte sie keine klassischen Motive, sondern eher das Einfache, das man auf der Straße findet. Ulrich Pohlmann sagt dazu: »Es war ja auch die Zeit des Kalten Krieges […], dass eine Fotografin dann aus Moskau berichtet hat und keine Parteiprozession fotografiert hat, sondern sich auch wirklich für das Leben auf den Straßen interessiert hat.« Sie hat, so Pohlmann, immer den Menschen im Vordergrund gesehen, also jenseits aller Ideologien und möglichen Parteizugehörigkeit.

Menschen aus allen Gesellschaftsschichten: Auffällig etwa eine Nonne mit ihren frechen Zöglingen, eine coole Soldatin – oder häufig Kinder. Gerne und oft aber international bekannte Künstlerinnen und Künstler, darunter zahlreiche Autoren und Schriftstellerinnen. Gelungen sind ihr die einzigartigen Porträts nicht zuletzt durch einen Kunstgriff. Sie benutzte nämlich mit der Rolleicord eine ungewöhnliche Kamera, die man vor der Brust hält, in den Sucher hineinschaut – und dabei immer noch das Motiv anschauen kann.

Der Apparat wird dabei scheinbar nebensächlich, verstellt weder das eigene Gesicht noch das des Gegenübers. Ideal für Niggls Porträtfotografie. Auch die Atmosphäre an der Isar in dieser Zeit kommt nicht zu kurz: Die Reportagefotos widmen sich Schwabinger Partys, Jazzdarbietungen auf der Leopoldstraße, der Wiedereröffnung der Alten Pinakothek. Packende Aufnahmen, die die Münchner Zeitstimmung erahnen lassen. Eine junge Frau tänzelt mit erhobenen Armen zwischen Schrank und Zimmerpflanze. Eine andere schaut herausfordernd auf die Trümmer der Theatinerstraße. Ist diese Dynamik schon so etwas wie die Vorahnung auf den revolutionären Ausbruchswillen der späteren 68er-Generation?

Und das war dann mit einem Mal vorbei. Barbara Niggl Radloff schloss 1961 die Ehe mit dem bildenden Künstler Gunther Radloff, zog 1966 nach Feldafing um, bekam drei Kinder – und nahm sich erst mal Urlaub von der Fotografie. Für immer lassen konnte sie es freilich nicht. Aber erst Ende der 70er-Jahre porträtiert sie wieder. Die Künstlervilla Waldberta in Feldafing – hier bringt die Stadt München Stipendiaten aus aller Welt unter – hatte es ihr angetan. Und verlernt hatte sie nichts. Auch konnte Fotografie inzwischen als Kunst gelten. Ihre vielen Porträts unterstreichen das eindrucksvoll, die von Leiko Ikemura, Zoë Jenny oder Thea Dorn beispielsweise ebenso wie die von Imre Kertész oder Joseph Beuys. ||

VERTRAULICHE DISTANZ. FOTOGRAFIEN VON BARBARA NIGGL RADLOFF 1958–2004
Münchner Stadtmuseum | St.-Jakobs-Platz 1
bis 20. März | Di bis So 10–18 Uhr | Der informative und reich illustrierte Katalog (Schirmer/Mosel, 170 S.) kostet im Museum 29,80 Euro | Kuratoren-Führung: 9. März, 18.30 Uhr; weitere Führungen sind online aufgelistet (Anmeldung erforderlich)

Weitere Texte zu aktuellen Ausstellungen gibt es in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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