Das NS—Dokumentationszentrum zeigt unter dem Titel »Departure Neuaubing« digitale Angebote zum Thema Zwangsarbeit.
Departure Neuaubing
Münchner Schatten
Im Westen Münchens entsteht mit Freiham ein neuer Stadtteil. Von der S-Bahn-Station sind es nur wenige Schritte bis zum ehemaligen Zwangsarbeiterlager Neuaubing. Lange wurden die Baracken wie das gesamte Gelände an der Ehrenbürgstraße 9 kaum beachtet. Seit 2009 steht das Lager unter Ensembleschutz – der Abriss war schon geplant; 2015 erwarb die Stadt München das Gelände, und ab 2025 soll dieser Erinnerungsort als Zweigstelle des NS-Dokumentationszentrums genutzt werden. Das Thema NS-Zwangsarbeit ist im kollektiven Erinnern der meisten Münchnerinnen und Münchner wenig präsent. Dabei gab es über 400 Lager auf Münchner Boden: Arbeitserziehungslager, KZ-Außenstellen, Wohnlager und Arbeitsstättender Zwangsarbeiter:innen. Im Neuaubinger Lager waren zwischen 1942 und 1945 circa 1000 Menschen untergebracht.
Das NS-Dokumentationszentrum hat, gefördert durch »dive in. Programm für digitale Interaktionen« der Kulturstiftung des Bundes, während des vergangenen Jahres ein hochkomplexes und vielseitiges Onlineprojekt realisiert. Bis ins kleinste Detail fundiert und sensibel durchdacht wird die Geschichte der nationalsozialistischen Zwangsarbeit interdisziplinär und multiperspektivisch vermittelt. Am 22. Januar wird das Projekt in all seinen Facetten und mit vielen der beteiligten Künstler:innen im NS-Dokumentationszentrum präsentiert.
Lebenslinien
Unter der Überschrift »Departure Neuaubing – European Histories of Forced Labor« entstanden eine interaktive Webanwendung, die sich aus fünf künstlerischen und journalistischen Einzelprojekten zusammensetzt, sowie ein hybrides Visual Novel Game, für das der Berliner Gamedesigner Jörg Friedrich und sein Team von Paintbucket Games gewonnen werden konnten. »Forced Abroad: Tage eines Zwangsarbeiters« basiert auf dem Tagebuch von Jan Henrik Bazuin, eines 19-jährigen niederländischen Zwangsarbeiters, der nach Neuaubing deportiert wurde. Im teilweise fiktionalisierten Game heißt der Protagonist Jan de Boer. Als hybrides Format zwischen Graphic Novel und Game ist »Forced Abroad« eine ästhetisch ansprechende, interessante Innovation, die der wachsenden Sammlung um »Erinnern mit Games« eine neue Facette hinzufügt.
Die Webanwendung »Departure Neuaubing – European Histories of Forced Labor« für Desktop, Tablet und Smartphone ist eine Einladung zur Interaktion und zur Partizipation. Seit einigen Jahren schon wird auf das allmähliche Verschwinden der Zeitzeug:innen in der Erinnerungsarbeit mit gamifizierten oder digitalen Strategien reagiert, auch um für jüngere Zielgruppen zugänglich zu bleiben. Die fünf digitalen Geschichtsprojekte verbinden Vergangenheit und Gegenwart, vernetzen die oft getrennt voneinander betrachteten europäischen Erinnerungsorte anhand der Lebenslinien individueller Zwangsarbeiter:innen, überwinden das Schweigen, auch durch bewusste Reflexion sprachlicher Veränderungen, und laden ein zum aktiven Erinnern und Wiederentdecken.
Die beiden Berliner Künstler Fabian Bechtle und Leon Kahane setzen sich in ihrer Videoarbeit »Freiham/Neuaubing« mit dem Münchner Stadtentwicklungsprojekt auseinander. Das Filmprojekt reflektiert die Spannung zwischen der zukunftsgerichteten Entwicklung eines neuen Stadtteils und der unmittelbaren, historisch belasteten Nachbarschaft des ehemaligen Zwangsarbeitslagers. »Mind the Memory Gap« ist der Titel der Intervention des Münchner Künstlers und Filmemachers Franz Wanner. In seinem Beitrag analysiert er semantische Verschiebungen im Diskurs und die Normalisierung rechter Sprachmuster und stellt ein Sprachanalyse-Tool vor.
Während sich diese Projekte unmittelbar mit Ort und Topografie des Neuaubinger Zwangsarbeitslagers auseinandersetzen, erweitert sich die Arbeit von Hadas Tapouchi, die Fotoserie »Memory in Practice«, auf den gesamten Münchner Stadtraum. Die in Berlin lebende Enkelin einer polnischen Shoah-Überlebenden versteht sich selbst als Angehörige der »dritten Generation«. Die 400 Orte der Zwangsarbeit sind in einer Datenbank auf der Website gelistet und beschrieben. Tapouchi hat in ihrer Erinnerungspraxis mehrere davon aufgesucht und ihr heutiges Erscheinungsbild fotografisch dokumentiert. Teils sind es offensichtlich vergessene, verlassene Orte, an manch anderen Orten wurde die Erinnerung aktiv überschrieben. Die Nutzer:innen des Webangebots sind eingeladen, selbst tätig zu werden und Orte ehemaliger Zwangsarbeit zu dokumentieren und die Fotos in die Datenbank hochzuladen, um die Wissensbasis so zu erweitern.
Von den europäischen Dimensionen der NS-Zwangsarbeit erzählen zwei weitere Webprojekte. Die Münchner Künstlerin Sima Dehgani ist in die Ukraine gereist, in das kleine Dorf Jewmynka bei Kiew. Von dort wurden 1943 nahezu alle Bewohner:innen, auch Kinder, in die Zwangsarbeit verschleppt, viele von ihnen nach München. In Jewmynka hat Dehgani vier überlebende Frauen und deren Angehörige getroffen. Fotos halten Alltag und materielle Erinnerungsstücke fest, auch Dokumente und Objekte, die oft als Beweisstücke für Entschädigungsleistungen relevant wurden. »Jewmynka und die verlorene Zeit« verdeutlicht, dass es für die Betroffenen ein Leben vor und nach dem Lager gab, das in der Erinnerungsarbeit oft ausgeblendet bleibt. Während Dehgani in ihrem fotografischen Beitrag vier Frauenleben in den Fokus stellt, folgt das Reportageprojekt von Alex Rühle (Text) und Alessandra Schellnegger (Fotos) den biografischen Spuren eines männlichen Zwangsarbeiters in München. Dieses Kooperationsprojekt mit der Süddeutschen Zeitung führte das Rechercheteam nach Italien zu den Angehörigen von Francesco di Nuzzo. Italienische Militärinternierte (IMI) stellen einen Sonderfall im Umgang mit Zwangsarbeiter:innen dar. Bis heute gab es von deutscher Seite für sie so gut wie keine Entschädigungsleistungen.
Erinnerung 2.0
Alle diese künstlerischen und journalistischen Erinnerungsprojekte werden durch die Webanwendung zusammengefasst. Die Reportagen, Fotostorys und Narrationen werden mittels »Scrollytelling« dargeboten, d.h. während des Scrollens entfaltet sich die Geschichte zu einer interaktiven Leseerfahrung. Neben den inhaltlichen, historischen und künstlerischen Aspekten überzeugt »Departure Neuaubing« durch die Detailtiefe: Jedes einzelne Element ist präzise durchdacht und öffnet neue Passagen in die Geschichte. Für die überzeugende interdisziplinäre Umsetzung des Projekts hat Juliane Bischoff, Kuratorin am NS-Dokumentationszentrum und verantwortlich für die digitalen Vermittlungsangebote, ein klug handverlesenes Projektteam zusammengestellt. Für die responsive Webanwendung ist das Berliner Studio operative.space gewonnen worden, das einen Font entwickelt, der sich aus zwei Schriften zusammensetzt und hintersinnig alt und neu kombiniert. Neben der Typografie wurde auch ein vierfarbiges Farbschema entwickelt, das die User:innen nach Belieben selbst auswählen können. Auch an barrierefreie Webgestaltung inklusive Nutzungsmöglichkeiten von Screenreadern, Einsatz von ALT-Texten bei Fotos und Grafiken etc. wurde gedacht. Für Usabilityund Playtests, auch mit Münchner Schüler:innen, wurde das medienpädagogisch erfahrene Team rund um David Seitz von mediale pfade engagiert. Wie durch die »dive in«-Förderung angeregt, werden die Codes der Webanwendung wie etwa die Einbindung der Forums- oder Suchfunktionalitäten, die partizipative Datenbankanbindung u.ä. als Open Source auf Github veröffentlicht und zur Weiternutzung verfügbar gemacht.
»Departure Neuaubing« ist ein schwergewichtiger Meilenstein partizipativer digitaler Museumsprojekte, dabei aber leicht und intuitiv nutzbar, der zum Abtauchen ins Rabbit Hole der Erinnerungskultur verführt und immer neue Erfahrungen und Erkenntnisse zutage fördert. ||
DEPARTURE NEUBAUING
Weitere Informationen
Weitere Artikel zu Münchens Vergangenheit und Gegenwart finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Patrick Zachmann: Die Ausstellung im Kunstfoyer
Katja Wildermuth: Die Intendantin des BR im Interview
Heimrad Bäcker: Die Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum München
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton