Richard Siegal treibt mit seinem Ballet of Difference seine energetischen Rhythmus-Experimente voran.

Richard Siegal in der Muffathalle

Boots Made for Walking

richard siegal

Alle zusammen: Richard Siegals Ballet of Difference in »Made Two Walking/Made All Walking« © Thomas Schermer

Auf einmal war Richard Siegal in München: seit 2008 koproduziert vom Muffatwerk, 2010 dort als »Choreographer in Residence«. Als langjähriger Tänzer in William Forsythes Ballett Frankfurt war Siegal einem bereits bekannt. Nun erlebte man in der Muffathalle und beim Festival DANCE seine zeitgenössischen Abende – Projektionen, Texte, ungewöhnliche, ins Skurrile treibende gestische Artikulationen waren Programm. Parallel begann er für das Bayerische Staatsballett zu choreografieren: 2012 kreierte er »Unitxt«. 2015 eröffnete die Ballettfestwoche im Münchner Nationaltheater mit dem Siegal-Dreiteiler »Unitxt«, »In A Landscape« und »Metric Dozen«. Gleich darauf folgte noch »Model«, seine Kreation für die Ruhrtriennale.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: der US-Choreograph Siegal bewegt sich im Schrittmaterial zwischen verschrägter Post-Neoklassik, Alltagsgesten und künstlerischer Suche nach ganz neuen Stückformen. Schon 2005 hatte er »The Bakery« gegründet, eine Plattform für Ideenaustausch und Realisierung gemeinsamer Projekte von Tänzern, Musikern, bildenden Künstlern, Architekten und Softwareentwicklern. Er arbeitete als Choreograf für das Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe und andere innovativ ausgerichtete Institutionen wie das Baryshnikov Arts Center in New York. Der Münchner Tanzpreisträger gründete hier 2016 das Ballet of Difference. Wie der Titel fast provokativ ansagt, ist das BoD keine traditionelle Compagnie, sondern ein gemeinsam mit starken Tänzerpersönlichkeiten konzipiertes Projekt. Dennoch bedeutet das BoD große Verantwortung für Siegal, der bis dato als freier Choreograf quer über den Globus aktiv war.

2017 kam für den in München Optionsgeförderten die Einladung vom Theater/Schauspiel Köln zu einer Kooperation, 2019 dann dort die solide Etablierung. »Das war im Grunde ein astronomischer Fall von Chance, die richtigen Partner für BoD gefunden zu haben«, sagt Siegal. »Meine Ensemblemitglieder können nun die Erfahrung eines Stücks mit in das nächste nehmen. Es besteht so eine Wechselwirkung zwischen der finanziellen Sicherheit und der von uns angestrebten künstlerischen Kontinuität.« Gerade die bedeutet bei Siegal immer auch den Aufbruch zu neuen Gestaltungsformen. Möglichkeiten dazu hat ihm das Kreieren von Internet-Formaten geboten. Zum Beispiel »Two for the show«, eine Art postmodernes Hybrid zwischen Tanz und digitalem Experimentent. »In der Tat!«, reagiert er spontan. »In einer unbekannten Situation, einem neuen Medium, da fühle ich mich ganz in meiner Komfort-Zone – gerade weil man nichts weiß, weil man lernen und erfinden muss. Im Internet stehen sich zwei Autonomien gegenüber: die Tänzer vor der Kamera und der Zuschauer in seiner eigenen Umgebung. Da Aufmerksamkeit zu bekommen, ist eine ganz neue Aufgabe.«

Typisch für Siegal ist auch die Umarmung der bildenden Kunst. Beispiel: sein »New Ocean Sea Cycle«, eine Choreografie, die mit wechselnden Bewegungsarrangements in Beziehung tritt zu der Skulptur »Howl« des britisch-indischen Künstlers Anish Kapoor für die Müncher Pinakothek der Moderne. Dazu Siegals Kommentar: »Von Anfang war meine Idee, dass unser BoD ohne Schwierigkeiten in Opernhäusern wie auch in nicht-theatralen Orten wie Museen auftreten sollte. Inspiriert hatten mich dazu vorab schon das in der Münchner Ägyptischen Sammlung präsentierte ››Civic Mimic‹› und ››Made Two Walking‹› im Lepanto-Saal des Museum Brandhorst.«

»Made Two Walking/Made All Walking«, die jüngste Kölner Kreation von Anfang Dezember 2021, ist eine Fortführung von Siegals »Made for Walking« von 2018. »Vieles hat sich da weiterentwickelt,« meint Siegal. »Jetzt, mit der Komposition meines langjährigen Komponisten Lorenzo Bianchi Hoesch und dem live spielenden Percussionisten Njamy Sitson, zünden sozusagen alle Zylinder.« Musik-Rundumkünstler Sitson aus Kamerun, schon längst waschechter Augsburger, hat für Siegal Trommel-Workhops gegeben. Darauf aufbauend ist dann das polyrhythmische »Walking«-Stück entstanden: »Für uns liegt die Faszination in diesem von allen geteilten Puls. Wenn das tanzende, stampfende Ensemble Polyrhythmen hervorbringt, muss es sich letztlich auf den ›Sweet Spot, den ›Wirkpunkt, einstimmen. Es ist ein Akt des haarscharfen Hinhörens. Jeder muss mit gleicher Aufmerksamkeit und Respekt für die Bedürfnisse des anderen dabei sein.« Und mit dem indirekten Hinweis auf die Pandemie und ihre sozialen Auswirkungen schiebt er noch nach: »Genau dieser gemeinschaftliche Prozess ist gerade jetzt so wichtig, in einer Zeit der Spaltung, des individualistischen Auseinanderfallens von Gesellschaften.« ||

RICHARD SIEGAL: MADE TWO WALKING / MADE ALL WALKING
Muffathalle | Zellstr. 4 | 8., 9. Juni | 20.30 Uhr

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