Millionen Menschen in den Metropolen dieser Welt haben kein Dach über dem Kopf. Im Architekturmuseum der Technischen Universität München hat man Gelegenheit, sich dem Themenkomplex »Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt« zu nähern.

Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt

Mangelware Lebensschutzraum

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Unübersehbar in Reih und Glied: Zeltunterkünfte in San Francisco © Christopher Michel

Manche Menschen ertragen keine geschlossenen Räume, andere wollen sich nicht auf eine Bleibe festlegen. Aber auf der Straße leben – das ist für die wenigsten Menschen, die es tun, eine freiwillige Entscheidung. Vorweggenommen sei: Konkrete Antworten auf die Frage, wie die zunehmende metropolitane Obdachlosigkeit in den Griff zu kriegen sein könnte, wird man in dieser Ausstellung nicht finden. Die von Daniel Talesnik kuratierte Schau ist eine attraktiv illustrierte Bestandsaufnahme ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Dafür gibt es eine kleine Büchersammlung für den Besucher am Ende der Präsentation.

Bevor man den ersten Raum betritt, steuert man auf ein großformatiges Bild zu, das einen bizarr genutzten Platz im Stadtraum von San Francisco zeigt: Auf etwa 50 auf den Boden gemalten Rechtecken steht in Reih und Glied je ein Zelt – Heimstatt von Leuten, die sich ein festes Apartment nicht leisten können. Interessant ist, dass dieser Platz offensichtlich nicht irgendwo am Stadtrand liegt, sondern mittendrin, vor einem repräsentativen schlossartigen öffentlichen Gebäude. Also ein Statement, das die prekäre Wohnsituation in San Francisco unübersehbar macht. Was man nicht wahrnimmt, existiert bekanntlich für die meisten Menschen auch nicht und wird also auch nicht als Problem, das es zu lösen gilt, wahrgenommen. Wohnungslosigkeit hat oft mit Scham zu tun und wird entsprechend so lange wie möglich verheimlicht. Auf einem öffentlichen Platz werden die sesshaften, etablierten Stadtbewohner mit einer Schieflage konfrontiert: dass es nämlich einen Bedarf an besonderem Wohnraum gibt, der entweder nichts oder so wenig kostet, dass er auch Menschen zugänglich ist, die zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben verdienen. Wer in den 80er Jahren durch Downtown Manhattan lief und schockiert über unter Planen schlafende Menschen stolperte, bekam von New Yorker Freunden die ungerührte Auskunft: Die Stadtverwaltung lasse die Leute da sichtbar »hausen«, als Warnung für alle, dass der soziale Abstieg jedem droht, der sich eben nicht genug anstrengt.

Jeder konnte der nächste sein, der auf der Straße landete. Vierzig Jahre später sind die Plastikplanen-Zelte aus dem Stadtbild verschwunden. Heute schlafen Menschen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können, oft mit ihrer ganzen Familie in städtischen Unterkünften, die mit der Idee von individuellem, privaten Rückzugsraum allerdings meist nichts zu tun haben.

Megacities und ihre Probleme

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Spektakuläre Fassade: Studio MC im Frankfurter Ostpark | © Studio mc

Im ersten Raum der Ausstellung liest man auf Wandtafeln und Litfaßsäulen, wie sich die Wohnungslosigkeit in Los Angeles, Moskau, Mumbai, New York, São Paulo, San Francisco, Shanghai und Tokio darstellt. Akribisch zusammengetragenes statistisches Zahlenmaterial über Durchschnittseinkommen und Durchschnittsquadratmeterpreise, Einwohner mit Wohnung und Menschen ohne festen Wohnsitz vermittelt die Realitäten in einigen der größten Städte der Welt. Die Gründe für Obdachlosigkeit sind je nach Standort verschieden: Klimakatastrophen, Waldbrände, Erdbeben, Wasserknappheit oder Überschwemmungen machen Menschen zu Obdachlosen. Arbeitsverhältnisse ohne Verträge verhindern Mietverhältnisse. Hohe Mieten sind mit niedrigen Einkommen nicht zu bezahlen. Die demografische Entwicklung oder fehlende sozialpolitische Maßnahmen tun das Ihre dazu: In Tokio gibt es 810.000 leere Wohnungen, weil die Einwohnerzahl gesunken ist. Die gutverdienenden jüngeren Menschen beziehen makellose, teure Neubauten, während die vernachlässigten, manchmal schon baufälligen alten Häuser von denjenigen besetzt werden, die mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung nicht mithalten können. So entstehen in vielen Stadtteilen Parallelwelten. In Moskau wird Obdachlosigkeit als soziales Problem ignoriert, die geschätzte Spanne der Obdachlosen liegt zwischen abenteuerlichen 14.000 bis 150.000 Personen. Da es so gut wie keine Sozialwohnungen in Moskau gibt, kümmern sich nur private oder kirchliche Einrichtungen um die Wohnungslosen, was in keiner Weise ausreicht. Illegale Arbeiter, die häufig vom Land in die Stadt kommen, werden rechtelos in Arbeitshäusern untergebracht und tauchen im öffentlichen Blickfeld so gut wie nicht auf.

Fantasievoll, pragmatisch, preisgünstig

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Gast-Stätte für Obdachlose, Geflüchtete und Studierende, mitten in Wien: Zimmer im vinziRast | © Simon Jappel

Ebenso originell wie pragmatisch ist das Ausstellungsmobiliar: Die plakatierten Säulen, die Wände, auf denen die Schautafeln angebracht sind, die Stelen für die Modelle und sogar die Sitzbänke in den Fensternischen sind allesamt aus Wellpappe, bevorzugtes, weil dämmendes Material unter Matratzen, wenn man im Freien schläft. Dass das auch noch gut aussieht, versteht sich von selbst, und ist wiederum Konzept, das im zweiten Raum konkret wird. Hier werden Beispiele vorgestellt, wie der Obdachlosigkeit mit geeigneten architektonischen Strategien begegnet werden kann. Modelle, die von Architekturstudierenden gebaut wurden, vermitteln einen Eindruck der räumlichen und dabei oft auch sinnlichen Situationen von Gebäuden, die dem Wohlfahrtsgedanken entspringen. Hier wohnen Menschen, die kein Geld für eine Behausung haben, dennoch aber in ihrem grundgesetzlich verankerten Recht auf eine Wohnung ernst genommen werden. Die öffentliche Hand beauftragt derartige Gebäude, weshalb sie kostengünstig in der Realisierung sein müssen. Die gezeigten Beispiele beweisen, dass Ästhetik und Zweckmäßigkeit durchaus zusammengehen, wenn man ein wenig mehr Fantasie als üblich zulässt. Wie beim Ostpark-Studio mit seiner ungewöhnlichen Fassade in Frankfurt, dem Haus VinziRast mitten in Wien, den allein wegen ihrer lichten Raumhöhe außergewöhnlichen Holmes Road Studios in London oder ebenda wie bei dem Wohnprojekt »Shelter from the Storm«, für das ein ehemaliger Supermarkt zum Wohnhaus umfunktioniert wurde. Man fragt sich, warum nicht viele Hotels, die schon längst keinen Gewinn mehr erwirtschaften, in Wohnprojekte umgewandelt werden. Oder warum die Bauämter und Lokalbaukommissionen in den deutschen Städten, allen voran München, viel lieber Hotelbauten genehmigen als architektonisch interessante sozialverträgliche Wohnhäuser? Es kann nicht daran liegen, dass es keine findigen Architekturbüros gäbe. Es kann auch nicht daran liegen, dass man Menschen nicht zumuten könnte, an belebten Kreuzungen zu wohnen (das tun ja schon sehr viele, die in Bestandswohnungen leben). Woran liegt es also dann?

Der dritte Raum widmet sich, leider sehr oberflächlich, den Situationen in Berlin, Hamburg, Essen, Düsseldorf, Leipzig, Dresden, Köln, Frankfurt, Stuttgart und München. Auf einer München-Karte an der Wand, die Anlaufstellen für Menschen ohne Wohnung vermerkt, fehlt das Bellevue di Monaco, das vor ein paar Jahren entstand, nachdem eine Künstlergruppe um Dieter Hildebrandt und Till Hofmann das leerstehende Haus in bester Innenstadtlage besetzte, renovierte und die Nutzung als Wohnhaus für Flüchtlinge mit Café und Sportplatz auf dem Dach durchsetzte. Dass die Stadt nicht selbst auf die Idee kam, sondern das Gebäude in direkter Nachbarschaft zur Lokalbaukommission einfach leerstehen ließ, ist mehr als verwunderlich. Bei der ganzen Obdachlosenunterbringungsdiskussion wird eine Frage nicht gestellt: Was hätte eine Stadt (wie München) tatsächlich davon, wenn sie ausreichend außerordentlich günstigen Wohnraum zur Verfügung stellen würde? ||

WHO’S NEXT? OBDACHLOSIGKEIT, ARCHITEKTUR UND DIE STADT
Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne
Barer Str. 40 | bis 6. Februar | Di-So 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr

Weitere Ausstellungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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