Claudia Bossard transponiert Nikolai Erdmanns Satire »Der Selbstmörder« ins 21. Jahrhhundert.

Der Selbstmörder

Kapitalismusverlierer-Revue

selbstmörder

Lorenz Hochhuth, Jan Meeno Jürgens, Ruth Bohsung und Carolin Hartmann fahren rum © Gabriela Neeb

Was man da auf der Bühne sieht, ist so etwas wie eine Resterampe: das, was übrig geblieben ist vom Turbokapitalismus. Der Boden des tristen Plattenbauwohnblocks, den Elisabeth Weiß auf die Bühne gebaut hat, ist bedeckt von Asche und Wegwerfbechern, die Kleider löchrig, die Hoffnungen überschaubar. Semjon ist arbeitslos, nachts quält ihn der Hunger nach Leberwurst. Als keine da ist, verschwindet er. Für seine Frau ist klar: Jetzt will er sich umbringen. Schnell ist das Gerücht in der Welt, Semjons vermeintliche Suizidpläne werden zum alles beherrschenden Thema. Die einen wollen ihn abhalten, die anderen seinen Tod für ihre Ziele nutzbar machen. Dass Semjon eigentlich nie vorhatte, sich umzubringen? Who cares?!

Claudia Bossard hat sich für ihre erste Inszenierung am Münchner Volkstheater ein beinahe vergessenes Stück des russischen Autors Nikolai Erdman ausgesucht: »Der Selbstmörder«, eine satirische Komödie aus dem Jahr 1928. Dass Bossard diese nicht eins zu eins inszenieren wird, dass es schräg werden wird, ist schon zu Beginn klar, als eine Nonne in der Tür steht und ein russisches Lied singt. Dieser Abend ist mehr eine durchgeknallte Revue als stringentes Schauspiel. Alle Szenen kreisen um Semjon und seinen bevorstehenden Selbstmord, von dem er selbst als Letzter erfährt. Irgendwie findet er dann aber Gefallen an dem Gedanken, auch wenn es natürlich noch viel zu klären gibt: der Tod als persönliches Erlebnis oder als politisches Statement? Was ist die richtige Methode? Wer das geeignete Vorbild? Soll er wie Heinrich von Kleist am Wannsee sterben? Wie schreibt man einen Abschiedsbrief? Lorenz Hochhuth spielt den Semjon als einen, der sich vollkommen in sich und seine literarischen Träumereien zurückzieht, sich als Hamlet versucht und im Werther versinkt, bis er im Gedanken an den eigenen Selbstmord neuen Schwung und einen Inhalt entdeckt. Auf einmal ist er wieder gefragt, alle scharen sich um ihn, alle wollen was von ihm. Mit beunruhigend starrem Blick schaut er in die Kamera, die sein Gesicht in Übergröße auf die Wand projiziert; schmiegt sich mit einer Pappkrone auf dem Kopf an den Hamlet’schen Totenschädel und übt sich in einer imaginierten Kreuzigung.

Wieder einmal ist hier am Volkstheater ein großer Ensembleabend gelungen. Carolin Hartmann, Ruth Bohsung, Janek Maudrich, Nina Steils, Silas Breiding und Jan Meeno Jürgens finden sich zusammen zu einer Clique der Sinnsuchenden, die sich gerne aus der tristen Realität in eine aufregende Welt möglicher Tragö- dien spinnt. Alice Peterhans und Anna Tropper-Lener machen den Sound dazu und liefern als Mönch und Nonne den spirituellen Überbau. Irgendwann heißt es dann im Auto, raus zum Wannsee. In den düster-grottigen Kostümen von Andy Besuch reisen sie in eine pink-blaue Berglandschaft, um den Selbstmörder zu suchen. Alexander vermutet, er sei »auf der Straße der Geschichte« liegen geblieben. »Wo ist das denn?«, fragt Maria. »Ist das weit von hier?« ||

DER SELBSTMÖRDER
Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | 3. Januar
19.30 Uhr | Tickets 089 5234655

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