Kultregisseur Leos Carax wagt sich mit »Annette« erstmals an ein Musical. Herausgekommen ist eine tragisch-ironische Pop-Oper.

»Annette« von Leos Carax

Jenseits von Kitsch und Kunst

annette

Leos Carax’ neuer Film ist ein hochstilisiertes Kinomärchen.Hier zu sehen: Hauptdarstellerin
Marion Cotillard in der Rolle der Opernsängerin Ann | © Alamode Film

Von Anfang an wird einem in diesem Film klargemacht: Hier ist alles Inszenierung. Nun, bei einem Musical ist das sowieso offensichtlicher als bei vielen anderen Genres, aber Leos Carax geht in seinem neuen Meisterwerk »Annette« noch einen Schritt weiter. In den ersten Minuten befinden wir uns in einem Tonstudio, in dem die herrliche Band Sparks die Filmmusik unter der Kontrolle des Regisseurs aufnimmt. Anschließend versammelt sich alles, inklusive der Hauptdarsteller Adam Driver und Marion Cotillard, um mit anschwellendem Gesang zu fragen: »May we start?«

So beginnt einer der wohl obskursten Beiträge zum Musikkino der letzten Jahre. Erzählt wird die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Stand-up-Comedian Henry und der Opernsängerin Ann. Schon allein an dieser Verbindung zeigt sich das Zusammentreffen von Hochkultur und vermeintlich Trivialem, die sich durch den gesamten Film zieht und einen Teil des Publikums sicher ratlos zurücklässt. Zumindest in Carax’ Welt passt das perfekt zusammen. Das Paar ist der Liebling der Boulevardmedien, und spätestens als der Nachwuchs ansteht, sieht alles nach dem Glück auf Erden aus. Doch dann geht in Henry eine düstere Metamorphose vor sich. Die zynische Bühnenfigur des Comedians scheint doch mehr mit der Realität zu tun zu haben als bisher geglaubt. Ex-Partnerinnen und -Kolleginnen formieren sich zum mahnenden #MeToo-Chor. Henry wird immer unberechenbarer und aggressiver, scheut sich sogar nicht davor, seine Tötungsfantasien auf der Bühne kundzutun, was den Abstieg seiner eh schon fragilen Karriere natürlich noch weiter befördert. Die Unkenrufe gipfeln in einer Tragödie auf hoher See – aber auch in einem Wunder, das mit der gemeinsamen Tochter Annette zu tun hat.

Tradition der Stilisierung

Nun noch einmal zur offensichtlichen Inszenierung, am süßen Baby wird sie nämlich überdeutlich. Statt einer Darstellerin benutzt Leos Carax eine Puppe, was der ganzen bizarren Angelegenheit noch die Krone aufsetzt. Mit ihrem Auftreten wandelt sich »Annette« auch mehr und mehr in Richtung Märchen und so zur tragisch-ironischen Pop-Oper.Auch wenn der Film der erste Ausflug des Regisseurs in Musicalgefilde ist, setzt er hier unmittelbar eine Tradition fort, die er bereits mit seinen frühen Werken »Die Nacht ist jung« und »Die Liebenden von Pont-Neuf« begannund auch im surrealen Wust von »Holy Motors« (2012) nachwirkt. Zusammen mit Jean-Jacques Beineix und Luc Besson war Carax in den Achtzigern Teil der französischen Filmbewegung Cinéma du look, bei der eine möglichst manierierte und stilisierte Inszenierung im Vordergrund stand. Werbe- und Musikvideoästhetik traf auf die Abgründe des New Hollywood, Popkultur auf die ganz große Kunst. »Annette« zeigt die Welt des schönen Scheins nicht nur thematisch an den Schatten des Showbusiness, sondern repräsentiert ihn durchwegs. Nicht im unterkühlten Neonlicht, sondern im Gewand des erbarmungslosen Pathos.

Pop, Pathos, Parodie

Und trotzdem reißt dieser Film den Zuschauer mit, selbst wenn einem die Welt der Musicals fremd sein sollte (ein gewisses Gen für Dramatik sollte man natürlich trotzdem haben). Manche Einlagen wirken zwar wie reine Parodie, zum Beispiel wenn Driver und Cotillard durch den Wald wandeln und lediglich »We love each other so much« vor sich hin trällern. An anderen Stellen hat man das Gefühl, von einem Tsunami aus allerhand mythologischen Querverweisen hinweggefegt zu werden. »Annette« schafft es bei aller Absonderlichkeit, auch emotional zu berühren. Nicht zuletzt liegt das an der genialen Performance von Adam Driver als von sich selbst gequälter Bösewicht, dessen Stand-up-Auftritte Carax in ihrer ganzen Breite inszeniert. Und natürlich ist da noch die Musik der Sparks, die bereits seit den Siebzigern Theatralik mit frechem Augenzwinkern versieht. In diesem Jahr ist der Band damit schon der zweite Leinwandauftritt beschieden worden, mit »The Sparks Brothers« setzte Edgar Wright ihnen bereits ein Dokudenkmal.

Mit »Annette« wagt Leos Carax keine Gratwanderung, er prescht mit Vollgas über alles hinweg, was Ernst, Ironie, E- und U-Kategorien, guter Geschmack und satirische Übertreibung ist. Heraus kommt ein rundes und gleichzeitig aneckendes Erlebnis, das sich neben den Höhepunkten seiner Filmografie nicht zu verstecken braucht. Sicher, alles ist nur Show – aber was für eine! ||

ANNETTE
Frankreich, USA 2021 | Regie: Leos Carax Musik: Ron Mael, Russell Mael | Mit: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg u.a.
140 Minuten | Kinostart: 16. Dezember
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