Mit Joe Sacco wird zum ersten Mal ein Autor für eine Graphic Novel mit dem mit 10.000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. In »Wir gehören dem Land« begleitet er die politischen Kämpfe im eisigen Norden Kanadas.

Joe Sacco

Fracking im Gehirn

joe sacco

© Joe Sacco, Edition Moderne

215 tote Kinder – war da nicht diese Schlagzeile, die im Mai für ein kurzes heftiges Erschrecken gesorgt hat? Ein Erschrecken, das beschämenderweise schon beim zweiten Satz der Meldung abflaute: Ach so, es geht um Kanada, um Tote aus den 1960ern und früher … als würde das Leid dadurch kleiner, oder der politische Skandal. Der renommierte Comicreporter Joe Sacco hatte sich bereits vor den schrecklichen Funden aufgemacht in den kanadischen Norden, zur indigenen Bevölkerung der Dene, um deren tote Kinder es sich handelt. Für das Buch »Wir gehören dem Land«, das daraus entstand, erhält er jetzt als erster Comiczeichner überhaupt den Geschwister-Scholl-Preis.

Wie massiv, wie zerstörerisch die Umerziehungsprogramme der kanadischen Regierung in den Internaten die gesamte Gesellschaft dort geprägt haben, begreift man beim Lesen des Bandes »Wir gehören dem Land« erst spät. Sacco lässt sich Zeit, setzt nicht auf das Schockmoment als Eyecatcher, im Gegenteil.

Die erste Seite zeigt eine romantische Idylle, ein Zelt, zwei Hunde, einen Mann, der in die Ferne blickt, wo die Sonne tief über bewaldeten Höhenzügen steht. Er lässt Paul Andrew erzählen, einen Mann mit wachem Blick, Schnauzbart und Brille. Andrew nimmt uns auf den detaillierten, kleinteiligen Tuschezeichnungen mit in seine Kindheit, wo er durch Zeltdörfer und Wälder stromert, beim Bootsbau hilft, beim Fischen, beim Kochen über offenem Feuer, beim Holzfällen. Es sind beeindruckend schöne ganzseitige Bilder, deren weite Landschaften oft ganz ohne Panel-Rahmen mehrere Szenerien und Ereignisse verbinden – vielleicht ein Spiegel der Kreisläufe im Leben der Dene, die je nach Jahreszeit dorthin zogen, wo es sich gut jagen oder fischen ließ. Als Sacco aus dem Off nach dem »Tag an dem das Flugzeug aufgetaucht ist«, fragt, antwortet Andrew nur »Ja, ja«, und Sacco lässt das Thema ruhen, vorläufig.

Mit seinem Guide Shauna besichtigt er Schulen, Industrie, Versammlungen, besucht Feste, versucht sich im Eisfischen, spricht mit Politikern, Aktivistinnen, mit Fortschrittsapologeten wie mit Verfechterinnen traditioneller Lebensweisen. Er reist zu den Fracking-Feldern, ein großes Politikum in einem Land strich, dessen Bevölkerung mit unverständlichen Verträgen und schalen Versprechungen ihres Landes beraubt wurde.

Sacco steigt tief ein in politische und juristische Auseinandersetzungen: um Bodenschätze, um Umweltzerstörung, um eine angemessene politische Vertretung der Minderheit, um die dringend benötigten Arbeitsplätze, um das Abschöpfen von Gewinnen durch Konzerne. Hier werden keine lokalen Konflikte ausgetragen, sondern globale, das stellt Darrel Beaulieu klar, CEO einer Deneeigenen Investmentgesellschaft: »Wer gegen Öl- und Gasförderung ist, gegen Fracking und Bohrungen, sollte auch aufhören, Auto zu fahren und zu telefonieren. Alles kommt letztlich aus der Erde, oder?«

Die Reise durch Schnee und Eis geht weiter und weiter, was bei den unzähligen Orten und Interviewpartnerinnen leider auch auf Kosten der Dramaturgie, der erzählerischen Energie geht. Erst als es sich nicht länger vermeiden lässt, weil Gewalttätigkeit, Alkoholismus und hohe Suizidraten in den Ortschaften Thema werden, kehrt Sacco zurück zur Frage nach den Ursachen dieser Gewaltspirale: den Internaten. Vom 19. Jahrhundert bis in die 1990er ließ der kanadische Staat indigene Kinder unter Zwang abholen und in kirchlich geführte Internate verbringen.

Nicht nur verlernten sie dort ihre Sprache und Kultur, häufig waren die Schulen geprägt von Gewalt und sexualisierten Übergriffen durch Personal und Mitschüler. Viele Kinder kehrten schwer traumatisiert und der Lebensweise ihrer Familien entfremdet zurück – andere starben im Internat an Hunger und Krankheiten. 2015 hat die von der Regierung eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission die staatliche Zwangsmaßnahme als »kulturellen Völkermord« eingeordnet.

Der amerikanische Autor und Zeichner Sacco ist nie nur Beobachter, er bezieht Position, macht sich zum Anwalt einer Seite – der mutmaßlich schwächeren – egal ob er in den Nahen Osten reist, in den Kaukasus, auf den Balkan. Eine gut gemeinte, aber mitunter vereinfachende oder romantisierende Haltung. Diesmal schafft es ein schöner Moment der Selbstreflexion in den Band: Eine Wissenschaftlerin unterstellt ihm, aus kolonialer Perspektive heraus zu recherchieren. Nach anfänglicher Entrüstung fragt er sich, »was unterscheidet mich eigentlich von einer Ölfirma? Beide sind hier, weil sie etwas wollen«. Und im Bild ist Sacco erstmals ohne die charakteristischen, runden, verspiegelten Brillengläser zu sehen. Seine Schädeldecke ist offen – und gibt den Blick auf eine Ölpumpe frei. ||

JOE SACCO: WIR GEHÖREN DEM LAND
Aus dem Englischen von Christoph Schuler
264 Seiten | Edition Moderne, 2020 | 25 Euro

Weitere Literatur-News und -kritiken gibt es in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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