Jetzt steht es tatsächlich da: das neue Volkstheater im Schlachthofviertel, das Intendant Christian Stückl mit unermüdlicher Energie den Stadtpolitikern abgerungen hat. Hochgezogen vom Generalübernehmer Reisch in nur drei Jahren – streng im Zeitplan und sogar knapp unter dem Kostendeckel von 131 Millionen. Halbrund schwingt der Bühnenturm des imposanten Ziegelgebäudes aus in den Hof an der Tumblingerstraße. Außen und innen herrscht lichte, luftige Weite. Ein großzügiges Foyer mit Bar, eine breite Treppenspirale, helles Blau und Gelb, abgesetzt gegen Schwarz. Und Platz für insgesamt 900 Zuschauer: 600 in der großen Bühne 1, 200 in Bühne 2 und 100 in Bühne 3. Alle Säle sind schwarze Schachteln mit viel technischer Ausstattung wie Dreh- und Hebebühne. Auch die Werkstätten und das Lager haben jetzt Platz. Die Spannung zur Eröffnung war riesig, die Stimmung dann auch. Hier unsere künstlerischen Eindrücke von den ersten drei Premieren.

Das neue Volkstheater

Es gibt noch Wunder

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»Edward II.« (Ensemble)

Die Wahl der Eröffnungspremiere ist ein Statement. Hausherr Christian Stückl wählte keinen bekannten Klassiker, sondern »Edward II.« von Christopher Marlowe. Der Shakespeare-Zeitgenosse schilderte 1592 das Leben des schwulen englischen Königs Edward II., der 1307–1327 regierte. Nach seiner Abdankung ließen ihn seine Gegner im Gefängnis unrühmlich ermorden. Laut Marlowes Quellen, den Holinshed-Chroniken, wurde er mit einem glühenden Eisen anal gepfählt. Das passiert in Stückls Inszenierung allerdings nicht: Hier erledigt Edwards angetraute Königin Isabella den Killerjob diskret mit einem Dolch.

Marlowe raffte die 20-jährige Regierungszeit ohne erkennbare große Zeitsprünge in fünf Akte, zugespitzt auf den homophoben Mord. Stückl verkürzte und verschlankte das Drama erheblich, reduzierte die Personen auf die zentralen Drahtzieher. Das optische Statement setzen die Bühne und die Kostüme in schrillem Shocking Pink von Stefan Hageneier. Im schwarzen Raum baute er auf die fast 15 Meter breite Drehbühne ein schwarzes Stahlgerüst aus Türrahmen und Wandandeutungen, die häufig pink leuchten. Zwei Orte darauf bilden die Pole: der Thron und eine Badewanne, alles pink. Sie stehen für Edwards Zerrissenheit zwischen Pflicht und Neigung: Während neben dem Thron Isabella und Adlige auf ihn warten (anfangs vor einem rosa Landschaftsprospekt), planschen er und sein französischer Liebhaber Gaveston lustvoll mit dickem Schaum in der Wanne.

Zu den Amtsgeschäften trägt Jan Meeno Jürgens dann König Ludwig-II.-Frisur und Uniform. Gaveston (Alexandros Koutsoulis) hat einen Strubbel-Haarverschnitt aus Warhol und Rod Stewart, er liebt Punk und Tüllröckchen. Was die Peers, die den König beraten (ein Parlament gab es noch nicht), wenig erfreut, am wenigsten den mächtigen Erzbischof (Pascal Fligg mit strenger Brille und Herzmündchen). Alle sind sich einig: Der schwule Gaveston muss weg. Sie erzwingen seine Verbannung, Edward holt ihn zurück. Da hilft nur noch Meuchelmord, den der Erzbischof eigenhändig mit seiner lila Stola übernimmt.

Unter den Grafen ist Mortimer der ehrgeizigste: Silas Breiding zeigt einen kühlen Strategen, der die vernachlässigte Königin (hochmütig: Liv Stapelfeldt) auf seine Seite und in sein Bett zieht. Lancaster (Janek Maudrich) ist ungestüm verpeilt, des Königs Halbbruder Kent (Lorenz Hochhuth als gebückter Buchhaltertyp) schwankt zwischen Einsicht und Loyalität. Er liebt Edwards kleinen Sohn (bei der Premiere Theodor Junghans), ein Miniabbild seines Vaters. Und der Diener Spencer (Julian Gutmann) staubsaugt sich zum neuen Vertrauten des Königs hoch.

Unermüdlich lässt Stückl die Drehbühne kreisen, da bleibt kaum Gelegenheit zu bewegten Aktionen. Oft stehen die Darsteller statisch herum, wirklich mitreißend wird es selten. Die Musik von Markus und Micha Acher sowie Cico Beck spielt emotional auch mit Popsongs. Nur die Saalakustik scheint noch nicht perfekt, der Raum verschluckt schnell gesprochene Sätze. Entweder müssen sich die Schauspieler darauf einstellen oder die Akustiker müssen nachbessern.

Tiere und andere Opfer der industriellen Fleischerzeugung

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»Unser Fleisch, unser Blut« (Ensemble)

Ja, der Gestank vom Schlachthof sei an den Schlachttagen schon sehr penetrant, sagte Christian Stückl bei der Eröffnung. Also klar, dass sich die Theatermacher mit der neuen Nachbarschaft auseinandersetzen. Für die zweite Produktion »Unser Fleisch, unser Blut« recherchierten die Regisseurin Jessica Glause und ihr Ensemble die Wege von der Tierzucht bis hin zum Tellergericht und dem Verbraucherkonsum. Aus Interviews mit Bauern, Metzgern und Fleischverarbeitern entstanden fünf Bühnencharaktere, die grellbunt gekleidet mit Masken auch fünf Tiere über ihre Existenzbedingungen reden lassen.

Der bayerisch-bodenständige Metzger (Jakob Immervoll) zeigt seinen wachsenden Betrieb und spielt auch sein Hauptopfer, das Schwein. Die Kuhbäuerin (Anne Stein) und die BioZiegenbäuerin (Maral Keshavarz) sind beide total überarbeitet und zweifeln an der Rentabilität angesichts der Fleisch- und Milchpreise. Der Koch (Jonathan Müller) köchelt live eine Sauce und muss als Haustier Hund immerhin keine Schlachtung fürchten. Die völlig überforderte Tierärztin (Mara Widmann) leidet als Reitpferd sehr komisch unter Teenagern, die sie für ein Kuscheltier halten. Bodensegmente des schwarzen Raums fahren hoch und runter, eine Riesentorte mit Weißwurstdeko dient als Sofa (Bühne und Kostüme: Mai Gogishvili), seitlich hängen dünne Lichtschläuche.

Auf der Bühne 2 ziehen die Schauspieler durchaus mit Witz eine bunte Revue ab, mit viel Information und noch mehr Aufklärungsbemühen, das deutlich auf junges Publikum und Schulklassen zielt. Für Auflockerung sorgen rockige Songs mit plakativen Texten, reichlich Tiergegrunze und wildes Herumgehopse. Komponist Joe Masi sitzt als Katze an den Keyboards, die Darsteller greifen zu Drums und Gitarre. Am Ende wird der nackte Metzger als Schwein mit der geköchelten Paste mariniert und verendet pathetisch in einem Leuchtring. Die Viecher formieren sich jedoch fröhlich zur Kindergartenpolonaise, und der Hund sinniert über Persönlichkeitsrechte.

Wahrheiten aus dem Social-Media-Klohäuschen

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»Gymnasium« (Vincent Sauer, Pola Jane O’Mara, Steffen Link) | © Arno Declair (3)

Drei sind aller guten Dinge, und im Volkstheater kam das Beste am dritten Tag. Der 44-jährige Autor Bonn Park inszenierte selbst die Uraufführung seiner Highschool-Oper »Gymnasium«. Diese wilde Zuspitzung einer postfaktischen Social Media- und Querdenker-Gesellschaft dürfte ein Renner werden, nicht nur bei jungen Zuschauern. Es ist tatsächlich eine Art Oper, im Orchestergraben sitzen zehn Musiker der Akademie der Münchner Philharmoniker plus Dirigentin Sonja Lachenmayr, und auf der Bühne verstärken Mitglieder des Bayerischen Landesjugendchors die acht Darsteller.

Bonn Park wuchs in Berlin, Paris und Korea auf, als Autor sammelt er seit 2011 Preise, für seine Oper »Drei Milliarden Schwestern« wurde er 2020 zum Nachwuchsregisseur des Jahres gekürt. Da war auch Ben Roessler sein Komponist, der hier mit einer gut gelaunten Mischung aus Pop und Klassik die Schauspieler sängerisch nicht überfordert. Park nimmt US-Highschools als Modell, in denen strenge Hierarchien herrschen: Hier die Beliebten, die Anführer und Meinungsmacher, dort die Graumäuse, die gern dazugehören würden, und dann noch die zum Abschuss freigegebenen Außenseiter. Er platziert seine Highschool-Parallelwelt am Fuß eines lilaroten Pappmachévulkans, der heftig raucht und Glitter speit (Bühne: Jana Wassong). Ein sehr dekoratives Menetekel. Seit Jahren regnet es Asche, weshalb die Schüler Sonnenschein gar nicht mehr kennen. Das Sagen hat die Influencerin Cherhilde, »das gemeine Mädchen« mit der Gefolgschaft der bösen Mädchen. Ihre Medienplattform ist die Toilettenwand. Was immer sie da hinschreibt, ist sofort geltende Wahrheit und entfesselt Shitstürme, die grundlos jeden treffen können. Selbstbewusst und überlegen erklärt Luise Deborah Daberkow dem Neuankömmling Ashleygunde (Henriette Nagel) das System: »Ich bin das Gesetz. Und die Natur.« Jede Lüge aus dem Klohäusl wird zur Wahrheit, sobald die Mehrheit sie glaubt.

Die Gruppen sind klar unterschieden. Die Athleten, angeführt von CJ Bert (Lukas Darnstädt), treten mit Rüstung und Lanzen zum komischen Turnier an (Kostüme: Leonie Falke), ein schüchterner Nerd mit grotesk hochgezogenen Schultern (Max Poerting) versucht in einem musikalischen, absurd-witzigen »Äh. – Ja? – Hm. – Was?«-Dialog die Neue zum Abschlussball einzuladen. Die Außenseiter sind das GothPärchen Sallygard (Pola Jane O’Mara) und der zweiflerische Grübler Joshphilius (fragil wie eine Figur von Tim Burton: Vincent Sauer). Der Direktor (Steffen Link) ist dem Meinungsterror hilflos ausgeliefert, und auf dem Vulkan klettert eine Forscherin (Lioba Kippe) herum, die sofort als Hexe verdächtigt wird. Was ist schon Wissenschaft gegen Meinung?

Diesen bitterbösen dystopischen Gesellschaftsentwurf inszeniert Park höchst unterhaltsam und bunt, mit präzisen Choreografien und Raum für die Songs. Auch Märchentricks sind erlaubt: Die Vulkanforscherin rettet sich vor ihren Häschern in einen Kokon und wird zum Engel. »Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!«, sagt der Patriarch in Lessings »Nathan der Weise«. So auch hier, denn Park hat als Zeit 1583 und 1995 benannt. Deshalb gehört eine Hexenverbrennung zum feierlichen Ritual des Abschlussballs, zu dem das hässliche Entlein Ashleygunde als strahlender Star vom Sternenhimmel einschwebt. Da steckt bei allem Amüsement sehr viel Stoff zum Nachdenken drin. ||

EDWARD II.
10., 13., 25. Nov. | 19.30 Uhr

UNSER FLEISCH, UNSER BLUT
12. Nov. | 19 Uhr | 13., 14. Nov. | 20 Uhr

GYMNASIUM
15., 26. Nov. | 19.30 Uhr
Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | Tickets: 089 5234655

Website

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