Werner Herzog beschäftigt sich in »Das Dämmern der Welt« mit dem Schicksal eines japanischen Soldaten, an dem die Weltgeschichte vorübergegangen ist.
Werner Herzog: Das Dämmern der Welt
Auf verlorenem Posten
Beiläufig und deutlich autobiografisch gefärbt beginnt Werner Herzogs drittes literarisches Werk: »1997 inszenierte ich in Tokio die Oper CHUSHINGURA. Shigeaki Saegusa, der Komponist, hatte mich lange gedrängt, die Welturaufführung seines Werks zu übernehmen«. Daraufhin hätte der namenlose Ich-Erzähler urplötzlich die Chance bekommen, den japanischen Kaiser persönlich treffen zu können, was dieser jedoch unerwartet und in Form eines krassen gesellschaftlichen Fauxpas ablehnt. Stattdessen wolle er lieber Hiroo Onoda kennenlernen, aus dessen waghalsiger Lebensgeschichte sich die folgenden 127 Seiten in loser narrativer Form schöpfen.
»Das Dämmern der Welt« ist soeben beim Münchner Hanser Verlag erschienen. Dort wird schon seit den 1970ern das Gros der Schriften und Drehbücher des weltberühmten Regieexzentrikers (»Aguirre, der Zorn, Gottes«/»Fitzcarraldo«) in unregelmäßigen Abständen publiziert. Und bisher war jedes dieser vor »ekstatischen Wahrheiten« (Werner Herzog) strotzende Büchlein wie »Vom Gehenim Eis« (1978 und 2012) oder »Eroberung des Nutzlosen« (2004) ein kleines literarisches Ereignis und beileibe nicht nur für Cineasten.
Das liegt zuallererst an Herzogs solitären Sprachgewittern, die beständig zwischen meditativem Duktus sowie freigeistiger Assoziationskraft mäandern und einen mitunter sehr eigensinnigen Umgang mit historischen Wahrheiten wie biografischen Verknüpfungen pflegen. »Die Nacht wälzt sich in Fieberträumen, und schon beim Erwachen, wie ein kaltes Frösteln, ist die Landschaft ein zum Tag verwandelter, statisch knisternder Traum, der nicht vergehen will, zuckend wie schlecht verkabelte Neonröhren zucken.«
Eben typisch Werner Herzog, der sich schließlich auch in seinem gewaltigen filmischen Oeuvre noch nie um strikte Trennungen zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Inhalten oder Gestaltungsmitteln scherte. »Seit dem Morgen flackert der Urwald in den rituellen Qualen einer elektrischen Verzückung. Regen. Das Gewitter ist so weit entfernt, dass der Donner nicht zu hören ist. Ist es ein Traum. Ist es ein Traum.«
In diesem halluzinatorischen Wach-Traum-Sound gleicht auch »Das Dämmern der Welt« von der ersten Seite an erneut einem hybrid angelegten, unverkennbar Herzog’schem Wortfilm, bei dem man die unvergleichliche Erzählerstimme des in L. A. ansässigen Bayern während der kurzweiligen Lektüre quasi wie von selbst aus dem Off (mit-)hört. Und wieder geht es in den Urwald, nur dieses Mal auf die abgelegene philippinische Insel Lubang, die der japanische Soldat Hiroo Onoda (1922–2014) seit dem Beginn der Seeschlachten während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich bis zum 9. März 1974 (!) als unerschütterliche Einmannarmee verteidigte.
»Als die Nachricht vom Ende des einsamen Krieges des Leutnants Onoda über das Radio Japan erreichte, standen alle Herzen, die Herzen einer ganzen Nation, für eine volle Minute still.« Onoda, der bis heute in seiner japanischen Heimat als Kriegsheld verehrt wird und dort jedermann bekannt ist, hatte als junger Soldat schlichtweg niemals erfahren, dass der Furor des Zweiten Weltkriegs schon vor vielen Jahrzehnten zu Ende gegangen war.
Und so hatte er sich weiterhin im Dickicht der militärisch unbedeutenden Insel getarnt, geplante Truppenlandungen alliierter Truppen über Jahre sabotiert und sich daraus am Ende auf eigentlich abstruse Weise als gewiefter Camouflage-Spezialist etabliert. Zwangsläufig irgendwann gefangen in seiner eigenen Gedankenwelt und ohne Vertrauen zu nichts und niemandem, das von außen um ihn herumschwirrte. Geisterhafte Chimären überall und die offenen Ausgeburten des Wahnsinns in immer greifbarerer Nähe.
Dabei bekam Onoda auf unglaubliche Weise weder vom Ausbruch des Koreakriegs noch vom Wahnsinn des Vietnamkriegs etwas mit, da er nach wie vor der festen Überzeugung war, dass es sich bei all den Marschkörpern oder Flugzeugen am Himmel immer noch um die alliierten Streitkräfte des Zweiten Weltkriegs handeln müsse.
Wer denkt da nicht automatisch an Herzogs legendäre (Anti-)Kriegsprotagonisten Stroszek (»Lebenszeichen«), Dieter Dengler (»Flucht aus Laos«) oder Christian Bale aus »Rescue Dawn«? Herzogs ureigene Neugierde für grandiose Archaik und berstende Sinnlichkeit wie extreme Gefühle und subjektive Grenzerfahrungen setzt sich auch in diesem literarischen Werk ebenso meisterhaft wie nahtlos fort. ||
WERNER HERZOG: DAS DÄMMERN DER WELT
Hanser, 2021
127 Seiten, 19 Euro
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