Das Münchner Spielart Festival erfindet sich als Phönix aus der Pandemie neu – und knüpft gleichzeitig an frühere Erzähllinien an.

Spielart Theaterfestival 2021

Schöpfen aus der Erschöpfung

spielart

Amanda Piña thematisiert in »Danza y Frontera« Ausgrenzung | © Hubert Marz

Alles in allem kein schlechtes Timing! Als im Herbst 2019 das letzte Spielart-Festival zu seinem weltgreifenden Programm einlud, ahnte man noch nichts von der verhängnisvollen Entwicklung, die sich da gerade schon im fernen China anbahnte. Und nun, turnusgemäß zwei Jahre später, erwacht die Menschheit gerade schrittweise aus dem traumatischen Zwangsstillstand. Reisen sind wieder möglich, die Gefahr eines erneuten Lockdowns scheint erst mal gebannt, dafür ist die Sehnsucht nach Begegnung und Liveerlebnissen im real geteilten Raum umso größer und das Programm von Spielart 2021 wie immer prall gefüllt mit knapp 40 Produktionen aus allen Ecken der Welt – fast so, als wäre gar nichts gewesen. Dass wirklich alles stattfinden kann, was da auf 50 eng bedruckten Seiten angekündigt wird, will Festivalleiterin Sophie Becker Mitte September noch nicht versprechen. Das Team steht gerade im Dauerkontakt mit Botschaften und den Goethe-Instituten, die unermüdlich bei der Beschaffung von Reiseunterlagen helfen.

»Wir haben wahnsinnig viel Ärger mit Visa«, so Becker, »aber das war zu erwarten. Theoretisch ist Reisen ja wieder möglich, aber faktisch sind die Auflagen dann doch riesig hoch. Und die Schwierigkeiten liegen nie da, wo man sie vermutet.« So bangte man zwischendurch am meisten um die britischen Künstler, dann gab es Gerüchte um eine neue Virusvariante in den USA, die schwierig werden könnte, und aus manchen afrikanischen Ländern wie dem Tschad gibt es ohnehin kaum belastbare Inzidenzzahlen. Trotzdem, es geht voran, und die Vorfreude wächst, auch wenn das Reisen für die Kunst mit Blick auf den Klimawandel wohl nie mehr ganz unbeschwert sein wird. »Ich verteidige es immer, dass Künstler*innen anreisen, weil ich die Begegnung untereinander und vor Ort mit dem Publikum extrem wichtig finde«, erklärt Becker. »Bei reinen Diskursveranstaltungen dagegen muss man angesichts der Schäden, die das Fliegen verursacht, wirklich sehr gut überlegen. Die finden bei uns daher überwiegend digital statt.«

Doch welche Auswirkungen hatten die Erschütterungen durch das Pandemiegeschehen jenseits der organisatorischen Hindernisse auf den Prozess des Kuratierens? »Es fällt auf, dass sich viele Projekte mit Erschöpfung auseinandersetzen«, stellt Becker fest. »Die Erschöpfung ist allerorten riesig. Und es geht um Fragen, wie man in der Welt, die ja offensichtlich zunehmend komplizierter wird, politisch, durch soziale Ungleichheit oder Konflikte infolge der Klimabedrohung, überhaupt noch zur Ruhe kommen kann. Ausruhen ist ein ganz großes Thema, zur Ruhe kommen als politischer Akt gegen den Leistungsdruck und den permanenten Ausnahmezustand.«

Auf den ersten Blick steckt hierin natürlich ein Paradox, denn Festival bedeutet per se Ausnahmezustand, Reizüberflutung, Überforderung und Schlaflosigkeit, auch wenn der Alltag für viele längst so anstrengend geworden ist, dass es da gar nicht mehr viel zusätzliche Überforderung braucht. Doch beim genaueren Hinschauen finden sich im diesjährigen Programm zwischen verheißungsvollen Gastspielen von Manuela Infante, Amanda Piña, Alice Ripoll, Alexandro Sciarroni oder Sankar Venkateswaran durchaus Inseln der Entschleunigung mit ungewöhnlichen Angeboten zur Rekreation. So lädt die indische Performerin Mallika Taneja aus Delhi zusammen mit über den ganzen Subkontinent verteilten Künstlerinnen, Musikern, einem Yogi und einer Puppenmacherin täglich via Zoom und Telegram zu einem »Rest of the struggle«, poetisch strukturierten Auszeiten, die zum Teil noch aus der verheerenden zweiten Corona-Welle in Indien resultieren. Alle bleiben zu Hause und stellen dabei zu regelmäßigen Zeiten eine öffentliche Verbindung her – gemeinsames digitales Durchatmen im alltäglichen Überlebenskampf.

Ausschließlich analog will Gastkuratorin Eva Neklyaeva zwei Wochen lang das Köşk in der Schrenkstraße 8 als olfaktorisches Festivalzentrum »Nose« mit Düften und Gerüchen aus aller Welt bespielen und daran nach dem Motto »Make sense of scents« auch politisch-soziologische Betrachtungen anknüpfen, vor allem aber (be-)sinnliches Schwelgen zu Tänzen und Klängen mit open access für alle.

Um nicht völlig in duftende Träumereien abzudriften, beschwört der Performer und Kulturanthropologe Julian Warner (alias Fehler Kuti) am mittleren Spielart-Wochenende in einem breit gefächerten Event das ebenfalls umfassende Phänomen »Global Angst« und mögliche Gegenstrategien dazu. Nach Vorträgen, Debatten und künstlerischen Interventionen in einem »Parlament der Angst« sollen die gesammelten Schrecken in einer Parade durch die Stadt ziehen und schließlich in einem von der Musikkünstlerin Anna McCarthy inszenierten Wicker-Man-Ritual in Flammen aufgehen.

Zwischen diesen durchaus kontroversen Polen gibt es ein Wiedersehen mit alten Festivalbekanntschaften wie dem fulminanten britischen Eigenbrötler Kim Noble oder dem einfühlsamen Gesprächsarchitekten Mats Staub. Forced Entertainment sendet Videobotschaften aus dem Online-Delirium und die New Yorker Choreografin Nora Chipaumire, noch in (laut-)starker Erinnerung mit ihrem Vater-Porträt im Boxring, erforscht in ihrer neuen Produktion »Nehanda« die Legende einer frühen Freiheitskämpferin des 19. Jahrhunderts in ihrem Geburtsland Simbabwe. Am Ende des Festivals gibt es wieder »New Frequencies« zu entdecken, aber auch die ältere Generation ist vertreten mit »I am 60«, dem eindrucksvollen historisch-biografischen Selbsterforschungssolo der gerade mit der Goethe-Medaille ausgezeichneten chinesischen Choreografin und Tänzerin Wen Hui, und Christine Umpfenbachs neuem Stück »What keeps us alive?«, einer Recherche über individuelle Lebensstrategien jenseits der 70.

Und für alle, die sich angesichts der Fülle des Programms dann doch wieder überfordert fühlen, empfiehlt Sophie Becker, einfach ganz intuitiv vorzugehen: »Für mich gibt es da zwei Varianten bei der Auswahl, was ich mir anschaue: Entweder ich denke, ah, das entspricht ganz meiner Lebenssituation, da geh ich mal rein, oder ich hab das Gefühl, etwas hat so gar nichts mit mir zu tun, das will ich dann auch sehen.« Also Schöpfen aus der Erschöpfung, den Überblick darf man hier schon mal verlieren! ||

SPIELART
Verschiedene Spielorte | 22. Okt. bis 6. Nov. | Tickets:089 45818181, Münchenticket | Website

Mehr zum Theater in München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


Das könnte Sie auch interessieren: