»The Many Saints of Newark« erzählt melancholisch und düster den Gründungsmythos der Sopranos.
The Many Saints of Newark
Im Summer of Love, da wo alles begann
Dickie Moltisanti ist nicht zu beneiden. Aus hehren Motiven ist er zu seinem Vater ins Auto gestiegen. Um ihm zu sagen: So kannst du mit deiner Frau nicht umspringen. Denn der Vater ist mal wieder ausgerastet, hat Dickies junge und kürzlich aus Neapel mitgebrachte Stiefmutter die Treppe heruntergestoßen. Schnell kommt es zum Wortgefecht, es eskaliert. Dickie knallt den Kopf des Vaters so oft aufs Lenkrad, bis vom Gesicht nichts mehr zu erkennen ist. Noch aus der Garage heraus muss er für seine Frau eine Geschichte erfinden, was denn das ganze Gehupe zu bedeuten hatte. Dann muss er seinem geliebten Neffen Tony erklären, dass der ihm heute nicht beim Autoschrauben zuschauen darf. Und schließlich muss Dickie mitten durch das von Unruhen aufgewühlte Newark des Jahres 1967 fahren, um die Leiche loszuwerden – was ihm in einer alten Werkstatt schließlich gelingt. Er setzt den toten Vater in Brand, das Gebäude brennt ab. Den Mord kann er damit den protestierenden Schwarzen in die Schuhe schieben. Seine inneren Dämonen vermag er aber nicht abzuschütteln.
In »The Many Saints of Newark« erzählen die Autoren David Chase und Lawrence Konner den Gründungsmythos der »Sopranos«. Mit ihnen erfand Chase für den US-Bezahlsender HBO 1999 die moderne Langstreckenserie. »Dein Vater war ein Heiliger«, sagt Mutter Livia in den »Sopranos« gern vorwurfsvoll zu Tony, und natürlich sind die »Saints« aus dem Titel genau genommen: Stammväter amerikanischer Mafiosi. Gleich zu Beginn der Geschichte, noch im Hier und Jetzt verortet, erklingt zu einem Schwenk über den Friedhof von Newark das Gemurmel zahlreicher verstorbener Figuren. Allen voran Christopher Moltisanti, der Sohn von Tonys Lieblingsonkel Dickie. Rasch mündet die Handlung in einen liebevoll ausgestatteten Sechziger-Kostümfilm. Ein Wiedersehen mit altbekannten Sopranos-Figuren, an ihren Marotten leicht zu erkennen: der stotternde Paulie Gualtieri, Silvio Dante mit seiner Betontolle. Lakonisch fordert er den derbe fluchenden Corrado Junior (Corey Stoll) zur sprachlichen Mäßigung auf – »Junior, es ist doch der Sommer der Liebe.« Die jugendlichen Alter Egos John Magaro und Billy Magnussen bleiben vor allem als glänzende Imitatoren im Gedächtnis.
Zum ersten Mal in Fleisch und Blut tauchen in »Many Saints« dagegen Christophs Vorfahren aus der Moltisanti-Familie auf: Alessandro Nivola verkörpert Tonys Lieblingsonkel Dickie als getriebenen, charismatischen, zugleich tieftraurigen Mann. Einen nachhallenden Eindruck hinterlässt Ray Liotta, der sowohl Dickies Vater spielt als auch – nach Dickies Mord an ihm – dessen wegen Mordes im Knast sitzenden Bruder. Vater Moltisanti ist ein teigiger Stiernacken, der seiner aus Neapel mitgebrachten Frau über den Mund fährt, schnell gewalttätig wird. Der Bruder, um den zu kümmern sich Dickie nach dem vertuschten Mord am Vater vornimmt, dient dem verunsicherten, von Scham geplagten Mann fortan als Medium und Orakel. Liotta wurde als Mafia-Aussteiger in Scorseses »Goodfellas« berühmt – einem Film, in dem zugleich viele der späteren Sopranos-Darsteller wie Lorraine Bracco (die spätere Dr. Melfi), auftauchten. Mit der Darstellung von Polizeigewalt und schwarzen Aufständen stellt Regisseur Alan Taylor einen Bezug zur Gegenwart von Black Lives Matter her. Harold McBrayer (Leslie Odom Jr.), Dickies früherer Helfer, macht ihm in seinem Viertel nun Konkurrenz. Ein grausamer Krieg beginnt. Die Identitätsthematik wirkt hier nicht opportunistisch aufgepfropft, kam dem Rassismus der Clans doch schon in der Serie Bedeutung zu. Auch Frauen haben für die Italo-Männer nur eine dienende Funktion. Giuseppina, Dickies Geliebte (»Goomar«), fordert diese Rollenverteilung schließlich heraus. Das mit den handelsüblichen Grausamkeiten eines modernen Mafia-Films aufwartende Drama funktioniert durchaus auch eigenständig. Doch bei der melancholischen Stimmung ist man sich nie ganz sicher, ob sie allein den »Many Saints of Newark« geschuldet ist – oder ob es nicht auch die Sehnsucht nach James Gandolfini ist, der die Sopranos auf seinen Schultern trug und 2013 an einem Herzinfarkt starb.
Sein Sohn Michael, der dem Vater stark ähnelt, spielt Tony als jugendlichen Freigeist. Er passt optisch nicht hinein in die starre Mafiawelt mit ihrem Kadavergehorsam. Der Junge neigt zu gelegentlichen Wutanfällen. Mutter Livia wird von der fantastischen Vera Farmiga gespielt, die man aus der Serie »Bates Motel« oder der Gruselreihe »The Conjuring« kennt. Eine starke, schlagfertige Mutter, die gelegentliche Stimmungsschwankungen überspielt. Für den Vater dagegen – Jon Bernthal geht unter vielen guten Darstellern ein wenig unter – scheint Tony deutlich weniger Respekt zu besitzen als für Onkel Dickie. »The Sopranos« waren nicht bloß eine Mafiaserie. Ein Boss zeigte Schwäche, ging zu einer Psychologin. In »The Many Saints of Newark« schlägt das Pendel eher Richtung reinem Mafiafilm aus – die Inszenierung der Gewalt gerät bisweilen zur stumpfen Routine.
Mit dieser düsteren Vorgeschichte mit ihren markanten Figuren könnte man die großartige Erzählung der Sopranos abschließen. Doch angesichts des riesigen Erfolgs von Filmreihen mag das Filmstudio Warner auch hier versucht sein, die etablierte Marke bis zum Exzess auszubeuten. Aus den Newarker Heiligen könnte sich bestimmt noch der eine oder andere Film (oder auch eine Miniserie) herausschälen. Man könnte sie aber auch unter ihren Grabsteinen ruhen lassen. ||
THE MANY SAINTS OF NEWARK
USA 2021 | Regie: Alan Taylor
Drehbuch: David Chase, Lawrence Konner
Mit: Alessandro Nivola, Jon Bernthal, Corey Stoll, Michael Gandolfini, Vera Farmiga u.a. 120 Minuten | Kinostart: 23. September
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