Erwin Olaf polarisiert das Publikum seit Jahrzehnten. Die Kunsthalle zeigt eine schöne und unheimliche Werkschau des niederländischen Fotografen.
Erwin Olaf: Unheimlich schön
Jenseits der gewöhnlichen Welt
Als Fotojournalist, ausgerüstet mit seiner geliebten Hasselblad, inszeniert Erwin Olaf fotografische Gesellschaftskritik, insbesondere zu sexueller Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung. Heute ist er 62, doch seine Fotografien bergen noch immer das Feuer seiner frühen Werke. Eines dieser Bilder, »Joy« aus der Reihe »Squares«, ist bis heute ein weltbekanntes Statement für queere Bewegungen. Es zeigt einen jungen, muskulösen, nackten Mann, der eine übersprudelnde Sektflasche vor seine Genitalien hält. Zu sehen sind dieses und weitere Fotos aus den letzten vierzig Jahren gerade in der Ausstellung »Unheimlich schön« in der Kunsthalle München.
Nacktheit spielt zunächst im Sinne der sexuellen Befreiung eine große Rolle. Dabei nimmt die Ästhetik einer Anordnung für den Künstler einen hohen Stellenwert ein. So erzählt jedes Bild eine eigene kleine Geschichte. Die buchstäbliche Wut ist der Brennstoff dieser frühen Werke. Könnten sie sprechen, so würde aus manchen Marilyn Mansons »Sweet Dreams« geradezu brüllen. Stechende Blicke, kantige Gesichter – Olaf verleiht mit Licht und Schatten seinen Bildern mindestens so viel Schärfe wie den Bedeutungen dahinter. Die meisten seiner Fotos mögen auf den ersten Blick beinahe unheimlich clean und oberflächlich wirken, ein Effekt, der durchaus beabsichtigt ist. Durch seine jahrelange Arbeit in der Werbeindustrie macht er sich bewusst seine Fähigkeit zu Nutze, auch gerne mal mit Klischees und Stereotypen optisch Aufmerksamkeit zu erregen. Und wenn er die gewonnen hat, dann schlägt er den Betrachtenden den Inhalt um die Ohren. In der Serie »Royal Blood« inszeniert Olaf berühmte Mordopfer der Geschichte, blutüberströmt und makaber klinisch. Alles Blut ist jedoch ein Fake und per Photoshop hinzugefügt. »Wollte ich die gewöhnliche Welt sehen, würde ich das Fenster öffnen«, sagt Olaf. Wie ein gespenstisches Statement des Ruhmes, der die Tat überlebt, sind die Fotografien zugleich faszinierend und unangenehm zu betrachten.
Wie zur Abkühlung nach einem fulminanten Beginn, der auf Besuchende wie ein Paukenschlag wirkt, führt die Ausstellung in die späteren Schaffensjahre. Als hätte Erwin Olaf sich die Hörner abgestoßen, sprechen aus Reihen wie »Grief« (2007) plötzlich vielfältigere Emotionen. Trauer, Einkehr, Weite, wortlose Kommunikation, mit der Zeit ist Olaf zu einem Meister des bildlichen Geschichtenerzählens geworden. Ein Anspruch, für den das Format Film fast besser geeignet zu sein scheint als die Fotografie. Olaf selbst bezeichnet das Kino als sehr einflussreich für seine Kunst. Die mystischen Standbilder sind enorm ästhetisch und detailliert, dabei jedoch nicht semiotisch überladen. Oft nutzt er historische Kleidung, Kostüme und Orte, sodass alles zugleich wie eine Zeitreise und wie aus der Zeit gefallen wirkt: zeitlos. Stellenweise erschafft sein Fingerspitzengefühl für Licht und Schatten den Eindruck einer Tiefe wie bei einem Rembrandt-Gemälde, nur irgendwie doch ganz anders und cineastischer. Der Besuch der Ausstellung ist gleichsam ein Gang durch eine Bibliothek, in der die Bücher offen liegen, man von Buch zu Buch wandert und dabei Einblicke in immer neue Geschichten erhält. Es gibt jedoch nicht nur Fotografie zu sehen, Olaf kreiert auch Skulpturen und multimediale Installationen, die nahtlos an seine Bilder anknüpfen.
Je näher an der Gegenwart, desto persönlicher wirken seine Werke, er spinnt feine Bedeutungskonstrukte, die wie durchsichtige Netze über den Fotografien liegen. Man kann in sie eintauchen und sie erforschen, oder auch das Bild ohne Metaebene auf sich wirken lassen. Olafs neueste Reihe führt ihn aus dem Studio heraus, in dem er für gewöhnlich ausschließlich arbeitet. 2020 begibt er sich mit seinem Ehemann und einem Team in den Wald im Alpenvorland. Jetzt, wo das Reisen kaum mehr möglich ist, ist »Reise« sein großes Thema, ob Flucht oder Urlaub, kombiniert mit Umweltthematiken. Das Ergebnis sind reduzierte, in Schwarz-Weiß gehaltene, nebelverhangene Landschaften und eindrucksvolle Porträts, die eine kaum in Worte zu fassende Melancholie vermitteln, begleitet von einem Hauch von Mystik, der seinen Werken stets innewohnt. Das wütende Gewitter der früheren Arbeitsphasen scheint vorbeigezogen und einer kühlen Brise gewichen zu sein, aber die Intensität und Eindringlichkeit der Bild-Erzählungen sind auch in den aktuellen Arbeiten unausweichlich präsent. ||
ERWIN OLAF: UNHEIMLICH SCHÖN
Kunsthalle München | Theatinerstr. 8 | bis 26. September | täglich 10–20 Uhr | Der reichbebilderte Katalog (Hatje Cantz, 240 Seiten, 300 Abb.) kostet vor Ort 32 Euro | Gratis-Audiotour | Kinderführungen: mittwochs (bis 8.9.) 15 Uhr | Kuratorinnenführung: 30.8. und 20.9., 18.30 | weitere Führungen und Veranstaltungen
Weitere Artikeln zu aktuellen Ausstellungen in München finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Galerie Rüdiger Schöttle: Das 55. Jubiläum
»Penis – eine Umarmung« von Lucy Wirth und Ines Hollinger
Gustav Mesmer & Misha Khan in der Villa Stuck
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton