Ein Gespräch mit dem dänischen Regisseur Thomas Vinterberg über seinen neuen Film »Der Rausch«, die Rolle des Kinos in Pandemie-Zeiten und persönliche Schicksalsschläge.
Thomas Vinterberg im Interview
»Man muss sein Leben wirklich beim Schopfe packen!«
Herr Vinterberg, 2020 und 2021 gelten aufgrund der Corona-Pandemie und ihren Folgen jetzt schon als besonders verheerende Jahre in der Menschheitsgeschichte. Dabei ereignete sich für Sie und Ihre Familie der Schrecken bereits ein Jahr zuvor, als Ihre 19-jährige Tochter Ida bei einem tragischen Autounfall ums Leben kam. Der vierte Drehtag von »Der Rausch« hatte da gerade erst begonnen, in dem sie eine der Schülerinnen spielen sollte … Was haben Sie aus dieser schwersten Tragödie Ihres Lebens für sich als Künstler wie als Familienmensch gelernt?
Thomas Vinterberg: Das ist wirklich eine sehr schwierige Frage und ich weiß gar nicht, ob ich sie beantworten kann. Aber versuchen wir es mal so: Zuerst einmal habe ich persönlich viel übers Trauern und die notwendige Trauerarbeit für alle Betroffenen gelernt. Dazu zählt für mich die Tatsache, dass man sein eigenes Leben wirklich beim Schopfe packen muss! All unsere Existenzen sind schließlich etwas enorm Wertvolles. Denn im Leben kann alles jederzeit aus und vorbei sein. Das habe ich mir und meiner Familie in dieser schweren Zeit immer wieder klargemacht. Außerdem habe ich den Wert eines glücklichen Ortes mit vielen lieben Menschen um einen herum noch einmal völlig neu kennengelernt. Ich hatte schließlich zusammen mit meiner Frau eine sehr enge Beziehung zu Ida. In diesem Trauerprozess wurde mir erklärt, dass es für Menschen, die eine nicht so gute Beziehung zu einem Familienmitglied hatten, das ums Leben kam, oft ganz anders läuft: Eine wirkliche »Heilung« gibt es da nicht.
Sie haben Ihrer verunglückten Tochter Ihren bereits rund um den Globus gefeierten Film gewidmet. Wie sehr fehlt sie Ihnen und wie haben Sie es geschafft, nicht alles sofort über den Haufen zu werfen und in Depressionen zu verfallen?
Ich habe für mich festgestellt, dass es die unvergessliche Liebe ist, die ich und meine Frau von ihr erfahren durften. Das hat uns stark gemacht und uns alle noch enger aneinandergeschweißt. Daran denke ich bis heute, auch wenn ich gleichzeitig weiß, dass ich sie für immer verloren habe. (Pause) Als Regisseur habe ich in diesem Prozess gelernt, dass es für mich seitdem extrem wichtig ist, nur noch relevante Filme zu drehen: Das heißt, Filme zu machen, hinter denen ich zu hundert Prozent stehe, weil ich sie mit einer Bedeutung auflade.
Kann die Liebe zum Kino und zur kreativen Arbeit unter diesen extremen Umständen ein Anker sein?
Die Fortsetzung der Dreharbeiten hat mich auf jeden Fall davor bewahrt, verrückt zu werden: Der freie Fall war da ganz nahe. Wie man nun damit umgehen kann, muss ich jeden Tag weiter für mich herausfinden. Denn wie kann ich das alles überhaupt verarbeiten? Ich weiß nicht, ob man das »lernen« kann. Es ist einfach unglaublich schwierig. Mir wurde dazu mit auf den Weg gegeben, dass du zwar durch dieses Tal durchkommen wirst, aber im Grunde wirst du niemals wirklich darüber hinwegkommen. Und du musst nun beständig versuchen, das irgendwie zu akzeptieren, auch wenn es verdammt hart ist.
Den Umgang mit ernsthaften Problemen fokussieren Sie auch im Plot Ihres berauschenden Films. Dabei spielen die Themen Sucht und Abhängigkeit, aber auch eine generelle Sinnsuche im lethargischen Leben midlifecrisisgeplagter Männer die Hauptrolle. Wie kam dieser Filmstoff zu Ihnen, für den Sie beim Drehbuch bereits zum vierten Mal mit Tobias Lindholm zusammenarbeiteten? Und was wollen Sie in der westlichen Gesellschaft damit konkret anprangern? Ohne Alkoholkonsum wären schließlich viele Kunstwerke, Filme und Romane niemals entstanden: Da reicht die Palette genialischer Süchtiger von Churchill über Hemingway bis Fassbinder.
Woran leiden diese vier männlichen Hauptcharaktere in unserer westlichen Gesellschaft? In Ländern wie Dänemark oder Deutschland geht es den meisten Männern recht gut. Trotzdem sehnen sich manche von ihnen deshalb erst recht nach mehr Risiko, um dem eigenen Kreislauf aus Sicherheiten zu entkommen. Viele von ihnen haben schließlich einen sicheren Job, eine liebe Frau und feste Familienstrukturen, was sich aber auch zu einer emotionalen Wüste umkehren kann. Diesen vier geht es in erster Linie ums Erkunden und Herausfinden: Sie begeben sich also ganz bewusst aufs dünne Eis. Mir gefällt zum Beispiel, dass das englische Wort »spirit« für Geist und Sinn zugleich auch in dem Wort »inspiration« steckt, was sich im Bedeutungsspektrum auch mit Eingebung oder Erleuchtung übersetzen lässt. In dieser Logik starten die vierMänner ihr Alkoholexperiment …
… das zuerst wie ein feuchtfröhliches Buddy-Movie beginnt, ehe es sich in eine berührende Tragikomödie verwandelt.
Das ist absolut richtig. »Der Rausch« ist natürlich einerseits ein Film übers gemeinsame Trinken und Feiern. Trotzdem soll er in meinen Augen viele Menschen dazu ermuntern, nach neuer Inspiration zu suchen und ungewöhnliche Wege einzuschlagen. Wenn er diese Neugierde bei möglichst vielen Zuschauern weckt, bin ich als Regisseur umso glücklicher.
In der Summe ist Ihnen mit diesen Genrezutaten ein berauschender Filmcocktail gelungen.
Mein Film sollte vor allem nicht limitiert, sondern möglichst frei sein. Dieser Mix macht ihn in meinen Augen so besonders. In manchen Szenen wird geblödelt, während andere Sequenzen vor Zärtlichkeit und Wärme strotzen. Das soll zusammen eine gewisse Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit ausstrahlen: So lautete von Anfang an mein Konzept für den Film.
In der Vergangenheit arbeiteten Sie mit verschiedenen Bildgestaltern. Nach Anthony Dod Mantle, Charlotte Bruus Christensen und Jesper Toffner hatten Sie sich nun für Sturla Brandth Grøvlen entschieden, den man in Deutschland vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Sebastian Schipper kennt. Für dessen One-Shot-Berlinale-Hit »Victoria« erhielt er 2015 einen Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung. Worin liegen seine besonderen Qualitäten?
Thomas Vinterberg: Im Grunde lag es genau an diesem Film, warum ich ihn für »Der Rausch« engagieren wollte. Sturla verfügt über eine hohe Sensibilität und ein ausgesprochenes Feingefühl, das mir imponiert. Er schafft es, mich mit seiner Kameraführung sofort zu fesseln und gleichzeitig innerlich zu bewegen, wenn er Bilder kreiert. Er versteht es außerdem, eine besonders fruchtbare Atmosphäre für die Schauspieler zu schaffen, in der sie regelrecht nach oben gehievt werden und so über sich hinauswachsen können. Auf diese Weise haben wir sowohl den Filmlook wie die Grundstimmung von »Der Rausch« konzipiert: von geschmeidig-leichtfüßig zu radikal-dramatisch, bis am Schluss der große Moment der Ekstase einsetzt. Da hatten wir es dann geschafft, weil am Set auch noch ausgelassen weitergetanzt wurde, als die Kamera längst ausgeschaltet war. Somit ist es am Ende ein Film von zwei Künstlern geworden, die beide den Mut hatten, einfaches Alltagsleben mit einer großen Sensitivität anzugehen und neben unterhaltsamen Faktoren auch auf ruhige wie ausgelassene Momente zu setzen, was sehr gut aufgegangen ist.
Sie hatten im letzten Jahr zusätzlich das Pech, dass »Der Rausch« zuerst nicht in Cannes und dann erst mit Verzögerung in einigen EU-Ländern laufen konnte. Auch in Deutschland wurde der Starttermin mehrfach verschoben. Wie beurteilen Sie den jetzt schon veränderten Kinomarkt sowie die generelle Situation der Lichtspielhäuser und des europäischen Autorenfilms angesichts des rapiden Wachstums mehrerer Streaming-Plattformen?
Ich bin da ein Optimist. Alleine in meinem Heimatland sind 800.000 Zuschauer in die Kinos gerannt, um meinen Film zu sehen. Von einem Kinoexperten hatte ich allerdings vor Kurzem erfahren, dass es mehr als eine Pandemie benötigt, um die Sehgewohnheiten der Menschen vollkommen zu ändern: Das müsste dann in unserem Fall schon ein Weltkrieg sein oder ein weiteres globales Drama ungeheuren Ausmaßes in allernächster Zeit, was ich mir derzeit nicht vorstellen kann. Ich bin dahin gehend schon beunruhigt, dass viele Menschen nach der schlimmsten Phase der Pandemie sofort wieder in ihre Routine zurückfallen und dann zum Beispiel wieder Flugzeuge besteigen werden, um rund um die Welt zu fliegen. Wenn ich dieses Muster jedoch auf die Akzeptanz des Kinos übertrage, bin ich ebenfalls fest davon überzeugt, dass alle schnell wieder zurück in die Kinosessel stürmen werden. Hier in Dänemark konnte ich das während der Corona-Pandemie genauso erleben, als es wieder möglich wurde, gemeinsam Filme auf der Leinwand zu sehen: Da herrscht eine unglaubliche große Lust, wieder ins Kino zu gehen.
Stichwort Zukunft: Woran arbeiten Sie gerade?
Ich schreibe zurzeit eine Serie fürs Fernsehen. Außerdem lese ich im Augenblick sehr viele Drehbücher, die mir angeboten werden. Am liebsten will ich aber im nächsten Jahr erst einmal diese Serie mit all meinen Lieblingsschauspielern inszenieren. Darauf habe ich große Lust! ||
DER RAUSCH
Dänemark, Schweden, Niederlande 2020
Regie: Thomas Vinterberg | Mit: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen u.a. | 116 Minuten
Kinostart: 22. Juli
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