Annette Geller hat mit »Carino« ein rundes Stück für Kinder ab 7 Jahren inszeniert
»Carino« im Einstein Kultur
Von wegen Hexe!
Hühner füttern, Pferde tränken, Kühe melken: all das muss erledigt sein, bevor Berni und sein Cousin Peter sich auf den fünf Kilometer langen Weg zur Schule machen. Zu Fuß! Auch im Winter! Denn Autos gibt es in ihrem Dorf ebenso wenig wie elektrisches Licht. Es ist eine andere Zeit, die die Münchner Regisseurin Annette Geller in ihrer neuen Arbeit für Kinder heraufbeschwört. Und doch sieht das kleine Ensemble, das in »Carino« auf der Bühne der Halle 1 des Einstein Kultur steht, wie von heute aus. Die Musikerin Antonia Dering, die Schauspielerin Diana Marie Müller und der Tänzer Damiaan Veens tragen Casual-Basics in Beige, Grün und Gelb, die farblich mit den Sitzsäcken matchen, die die drei sich zu all dem zurechtkneten, was immer sie eben brauchen. Flexibilität ist Trumpf auf Manuela Müllers Bühne, auf der für alle Fälle noch ein gut bestückter Kleiderständer parat steht – und auch bei den drei Performer*innen, die alle alles machen: verschiedene Rollen spielen, erzählen, aber zum Beispiel auch Stimm- und Mundwerklockerungsübungen à la »brrrrr« und »ffffftt«, einzelne Silben zum Schwingen und Schlingern bringen oder die abstrakten Bewegungsfolgen exerzieren, die für wiederkehrende Tätigkeiten stehen wie zum Beispiel – ja, genau -: Hühner füttern, Pferde tränken, Kühe melken.
Ganz präzise machen sie das. Und eben rätselt man noch, wie man bloß darauf kommt, diese zwischen Windmühlenflügel- und Wallebewegung changierende Armchoreografie mit dem immer gleichen Weg über Hügel und Schotterstraße zu assoziieren, schon freut man sich darüber, wie schnell man alle Sequenzen korrekt zuordnen kann. Auch den Kindern ab 7 Jahren dürfte es so gehen, für die das Stück des kanadischen Autors Vern Thiessen eigentlich gedacht ist. Geller, die sich in der Vergangenheit gerne mal in ihren detailverliebten und zugleich aufs große politische Ganze ausgreifenden Handlungsfäden verheddert hat, erzählt diesmal außerordentlich klar und kann sich jederzeit auf ihr wunderbares Team verlassen. Die Vorgeschichte, in der man erfährt, warum Berni bei Onkel und Tante lebt, wird ebenso wie der Abzweig zum Happy End flugs abgehandelt. Und teils auch richtiggehend elegant: »Mama? Papa?«, fragt Müller als Berni. Ein winziges Kopfschütteln von Dering, die den Onkel spielt (und so herrlich glasklar singt), genügt als Antwort.
So konkret die Geschichte ist, formal ist sie im nur andeutungshaften Bewegungstheater verortet: Wenn sie Bernis zehn Cousins und Cousinen vorstellen, schieben sich die drei Akteure immer wieder neu nebeneinander. Im Schneesturm verlangsamen sich alle Aktionenund auf unwegsamem Sitzsackuntergrund lässt es sich wie durch Neuschnee stapfen. Warum das Stück »Carino« heißt, erfährt man übrigens erst ganz am Schluss, an dem schön ist, wie er das Klischeebild einer Hexe erst genussvoll ausmalt und dann wie eine Seifenblase platzen lässt. Sowohl textlich – die abgebrannte Scheune, »der fast tote Baum«, unter dem Geschenke liegen – wie auch im Spiel: Eine bucklige Gestalt mit Kapuze zückt einen langen krummen Zeigefinger und packt das Kind am Bein! Man darf sich ruhig ein wenig gruseln, bevor sich unser aller Vorurteile und Bernis Einsamkeit in Wohlgefallen auflösen und sich die kleinen Rätsel und Kanten des Stückes ein bisschen zu glatt runden. Doch sei ́s drum! Kinder, und nicht nur diese, können so etwas Rundes gerade echt gut brauchen. ΙΙ
Noch Donnerstag, 19 Uhr, Freitag, 9 Uhr, Einstein Kultur, Einsteinstraße 42, Karten unter carino2021@email.de
Weitere Gastspiele Ende 2021 und 2022
Mehr über das Theater in München gibt es in unserer kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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