Mordechai Bernsteins Zeugnisse jüdischen Lebens führen durch ein »Labyrinth der Zeiten«.

»Im Labyrinth der Zeiten«

Geschichte freilegen, Spuren finden

labyrinth der zeiten

Münchner Synagoge am Vorabend der Zerstörung Juni 1938 | © Jüdisches Museum, München (2)

Das überraschendste Objekt dieser Ausstellung leuchtet ganz am Ende aus dem dunklen Raum des zweiten Stockwerks im Jüdischen Museum am Jakobsplatz. Es ist eine gotische Muttergottes mit dem toten Jesus im Schoß. Eine Pietà aus christlicher Bildhauerhand in einer Schau verlorener, geraubter, vermisster und wiedergefundener Zeugnisse jüdischen Lebens?

Mit dieser Pietà verbindet sich einer der vielen bedrückenden Vorgänge der deutschjüdischen Geschichte. Sie stammt aus dem mittelfränkischen Städtchen Schnaittach, in der bis zum Pogromjahr 1938 noch eine Synagoge stand. Die jüdische Gemeinde wurde zum Verkauf des Gebäudes gezwungen und anschließend ließ man dort ein Heimatmuseum einrichten. Die Schnaittacher Pietà wurde auf dem Platz des Tora-Schreins aufgestellt – für gläubige Juden ein geheiligter Ort, der den Tora-Rollen vorbehalten ist. Als der Provenienz- und Kulturforscher Mordechai Bernstein sich in den Nachkriegsjahren auf die Suche nach Zeugnissen jüdischer Gemeinden in Deutschland machte, fand er genau diese, ihn tief erschütternde Situation. Er hatte den Auftrag, im Namen der Jewish Restitution Successor Organization über die Rückgabe verbliebener Ritualgegenstände zu verhandeln, was jedoch in diesem Fall nicht gelang. Man wollte die Objekte nur abgeben, wenn sich in Schnaittach eine neue jüdische Gemeinde ansiedeln sollte. Was damals als durchschaubare Ausrede bewertet werden musste, sollte Jahrzehnte später eher zum Glücksfall werden, denn die Gegenstände der vertriebenen Gemeinde konnten den sammlerischen Grundstock für das jüdische Museum Schnaittach bilden, das 1996 eröffnet wurde.

Diese Geschichte entschlüsselt den Titel der Ausstellung – »Im Labyrinth der Zeiten«. »Jüdische Geschichte und Kultur in Deutschland erschließt sich nie einfach«, erläutert Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums München und Ausstellungskurator, »weil sie durch die Zeitläufte oft fragmentarisch und auch oft zerstört ist. Aber wie für Bernstein in seinem ›Labyrinth‹, in dem man sich als Suchender bewegt, können durch freigelegte Schichten Spuren gefunden werden«. Das Jüdische Museum beweist einmal mehr, wie man auch auf überschaubaren Raumflächen eindrucksvolle Ausstellungen gestaltet. Ausstellungsarchitekt Martin Kohlbauer hat dunkle Ebenen geschaffen, auf denen man um Ecken und Kanten, irritiert und umgeleitet von dünnen, raumteilenden Stäben, von Objekt zu Objekt wandert. Das schafft den Gegenständen Aura. Das älteste Stück, das Fragment einer Öllampe aus dem Landesmuseum von Trier, stammt aus dem 4. Jahrhundert und ist Beleg für jüdisches Leben in Deutschland in frühester Zeit. Das Rechnungsbuch des Bamberger Bauhofes von 1615 ist in die Reste einer zerstörten Torarolle eingeschlagen. Zeugnis des bedrängten Lebens der jüdischen Gemeinden – verfemt, verfolgt und immer wieder aus ihrer Heimat vertrieben. Eine verbrannte Torakrone, die später aus dem Schutt der 1938 zerstörten Synagoge von Laupheim (bei Ulm) geborgen wurde, erinnert an die jüngste und schlimmste dieser Zeiten in Deutschland.

Neben diesen Erinnerungen an die furchtbaren Ereignisse in der deutsch-jüdischen Geschichte zeigt die Ausstellung auch andere Objekte. So sieht man neben einem Chanukkaleuchter und anderen Ritualgegenständen das Modell der alten Hauptsynagoge von München, die 1887 in der Herzog-Max-Straße eingeweiht wurde. Ein großer Prachtbau im neoromanischen Stil, den man beim oberflächlichen Betrachten für eine Kirche halten könnte (und die ähnlich als Lukaskirche am Münchner Mariannenplatz steht): ein Versuch der jüdischen Gesellschaft, in der königlich-bayerischen Residenzstadt als gleichberechtigter Teil der einflussreichen Bürgerschaft wahrgenommen zu werden. Aber auch dieses Gotteshaus fiel wenige Jahrzehnte später dem nationalsozialistischen Wahn zum Opfer.

Wer aber war dieser Bernstein, dem all diese Spuren und Zeugnisse zu verdanken sind?

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Mordechai W. Bernstein um 1950

Mordechai Bernstein wurde 1905 im heutigen Weißrussland geboren. Zwar wurde er traditionell orthodox erzogen, begann sich aber schon als junger Erwachsener für sozialistische Ideen zu engagieren. Jüdische Lehreranstalt, Sekretär des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, Warschau, Wilna, sowjetische Gefangenenlager, dann Deutschland, Buenos Aires, New York. Ein Journalist, Bibliothekar und Schriftsteller. Siebensprachig! Kein Akademiker, ein hochbegabter Autodidakt – die Biographie liest sich wie ein Abenteuerroman. Lebenswege wie die eines Bernstein und vieler vergleichbarer Schicksale, sind in der heutigen wohlgeordneten, westlichen Lebenswelt kaum noch vorstellbar. Nach dem Krieg war Bernstein in Deutschland unterwegs, um nach Spuren und Überresten der jüdischen Gemeinden zu suchen. Rund 800 Orte hat er wohl besucht – von Lübeck bis Konstanz, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, von Passau bis Aachen, in Dörfern und Metropolen. In vielen Fällen gelingt es ihm, Spuren, Reste, Gegenstände und Archivalien aufzufinden, zu werten, zu sichern und über die Institutionen, für die er tätig ist, an jüdische Nachkommen zurückzugeben oder an jüdische Gemeinden und ihre Einrichtungen zu vermitteln.

Eine Auswahl von 18 Objekten, jedes einzelne mit eigener, berührender Geschichte, zeigt nun das Jüdische Museum München bis Februar 2022. Begleitend ist ein in Inhalt und Ausstattung empfehlenswerter Katalog aus dem Verlagshaus Hentrich & Hentrich erschienen. Darin finden sich auch Bernsteins direkte Niederschriften zu den ausgestellten Objekten, wofür am Jakobsplatz aus Raumgründen zu wenig Platz war. Ausstellung wie Buch belegen, wie sehr jüdische Menschen und jüdisches Leben um Anerkennung und Platz in Deutschland gerungen haben. 1700 Jahre dieser Spuren und Geschichten haben in dieser Ausstellung einen gelungenen Beitrag gefunden. Als letztes steht hier ein Modell des Synagogen-Mahnmals von Aschaffenburg, das schon kurz nach Kriegsende errichtet wurde und damit eines der frühesten Erinnerungszeichen der Shoa in Deutschland ist. Ein Händereichen, eine Versöhnungsgeste? Vielleicht. Dafür ist die Nachkriegsgeschichte wohl noch zu jung und noch zu wenig bewährt. So ist dies keine gelehrte oder belehrende, keine erklärende oder anklagende Schau. Es ist mehr eine Schau des Innehaltens und Nachdenkens über den Lauf der Zeiten und natürlich das »Weltvolk der Juden«, wie Bernstein es ausgedrückt hat – und seiner langen, leidvollen Geschichte. ||

IM LABYRINTH DER ZEITEN.
MIT MORDECHAI BERNSTEIN DURCH 1700 JAHRE DEUTSCH-JÜDISCHE GESCHICHTE
Jüdisches Museum München
Sankt-Jakobs-Platz 16 | bis 13. Februar 2022

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