Die Bühne ist im Wandel. Thomas Kiefer spricht mit Stefan Tilch, Intendant der Landestheater Niederbayern, über neue Vermittlung, das Glück der Stadttheater und die Chancen der Maske.

Landestheater Niederbayern

Zukunft versus Jauleffekt

landestheater niederbayern

Herr Tilch, wenn Sie mal für alle sprechen – wie geht es dem Landestheater Niederbayern in diesen langen Schließungsmonaten?
Den Umständen entsprechend gut, weil wir seit dem letzten Shutdown im November die letzte noch offene Bühne bespielen, nämlich die digitale Plattform. Das ist natürlich kein vollständiger Ersatz für die Vorstellung vor Publikum, aber wir haben eben die letzte freie Möglichkeit genutzt. Und dadurch haben wir uns auch in den Betrieben eine Form von Normalität wahren können. Wir haben nichts abbrechen oder absagen müssen, sondern fertiggestellt und in ein anderes Medium transportiert. Das hat uns so etwas wie einen Theateralltag bewahrt. Mit dem einzigen Unterschied, dass wir Freitagnachmittag hier rausgehen und »Schönes Wochenende« sagen. Ein Ausdruck, der uns zunächst wie ein
Fremdwort vorkam.

Wie arbeiten jetzt die Regisseure? Inszenierung für die Kameraaufzeichnung oder für den klassischen Theaterguckkasten?
Das ist genau der Prozess, in dem wir jetzt stehen. Zunächst haben wir natürlich schon Vorhandenes abgefilmt. Das war die Phase, als noch vor reduziertem Publikum gespielt wurde. Dann haben wir gemerkt, dass wir eine andere, eine neue Kunstform schaffen müssen. Darum gibt es bei uns auch keinen Livestream. Denn dann ist die Kamera nur der Berichterstatter und geht auf Nummer sicher.Totale, Halbtotale und bei den Naheinstellungen kann der Kameramann nur hoffen, dass sich der Darsteller nicht aus dem Ausschnitt bewegt. Langweilig! Wir arbeiten jetzt mit einem viel mutigeren Zugriff. Die Möglichkeiten, die über das Dokumentieren hinausgehen, sind mit dieser Arbeitsweise viel direkter. Wir können Elemente nutzen, die über das Abfilmen hinausgehen. Dadurch entsteht auch eine neue Kunstform, die sich von der klassischen Bühne/Publikum-Optik abhebt. Natürlich keine Neuerfindung. Aber wir entwickeln unseren Stil am eigenen Haus. Und – wer uns sehen will, kann das jetzt kostenfrei und auf individuellen Internetabruf.

Jede Krise setzt auch Kräfte frei – können Sie in dem Erlebten der vergangenen Monate auch Gewinn für Ihr Haus finden?
Das hoffe ich doch. Für uns war von Anfang an klar: wir gehen nicht nach Hause, wir machen keine Kurzarbeit. Wir kommen unserem Auftrag nach, wir entdecken neue Spielformen und machen weiter Oper und Theater für diese drei Städte. Dadurch haben wir in unseren Häusern viele Fähigkeiten und Stärken entwickelt. Auch weil wir nichts fremdvergeben haben. Das ist schon ein großer Gewinn.

In der ersten Zeit der Pandemie waren die Reaktionen aus den Theatern sehr unterschiedlich. Es gab Proteste, und die Intendanten haben offene Briefe geschrieben. Da gab es Verärgerung und Widerstand in der einen Gruppe. Besonnenheit und Appell auf der anderen Seite. Wo sind Sie da gestanden?
In der ersten Zeit der Pandemie waren ja die Folgen zunächst heftig und überraschend. Da hieß es: da gibt es was in China, aber es tut uns nichts. Und am nächsten Tag war alles zu. Wir waren erst mal empört und wollten wissen: Warum wir zuerst? Wir hatten alle das Gefühl, die Politik hält uns für überflüssig. Und jetzt hat die Theaterlandschaft größte Anstrengung unternommen, mit Beachtung aller Erkenntnisse und Vorschriften Konzepte zu entwickeln, unter denen wir unserem Publikum Vorstellungen anbieten können. Und das greift immer noch nicht. Natürlich gibt es da bei uns so etwas wie einen kulturellen Jaul-Reflex. Zugegeben, das ist nicht immer zielführend.

Welche Schäden wird die Pandemie hinterlassen? Möglicherweise dauerhaft?
Wir werden abwarten müssen, wer von unseren freien Künstlern in welcher Verfassung zurückkommt. Uns Stadttheaterleuten ging es ja immer gut. Das ist auch eine Seite der viel diskutierten Systemrelevanz. Die Theater in Deutschland sind hochgestellt und wohlbeschützt! Schauen Sie zum Beispiel nach England. Da hängt ein Musicaltheater an Investoren. Und die sagen, was brauche ich eine Vorstellung, wenn ich nicht alle Sitze verkaufen kann. Die schließen zu. Wir können vielleicht irgendwann schadenfrei aus dieser Situation wieder aufstehen. Aber unter den freien Kollegen kenne ich sehr viele, die seit Monaten auf Hartz IV zurückgeworfen sind.

Da wird der Ensemblevertrag in nächster Zeit zur Goldwährung?
So viele Vertragsmöglichkeiten gibt es da gar nicht. Freie Künstler wandern zu den Projekten zwischen den Stadttheatern. Wir brauchen beispielsweise jetzt Sänger für unsere Italo-Pop-Revue. Und fürs Musical braucht man auch spezielle Sänger und Tänzer, die wir nicht für Jahre unter Vertrag nehmen können. Solche Künstler haben »Ich«-Unternehmen aufgebaut und stehen jetzt zum Teil ohne Einkünfte da. Für die Stars an der Oper wird es immer lukrative Angebote geben. Wie sich das für die Breite der Künstlerschaft entwickelt, muss man dann sehen.

Das Landestheater Niederbayern versorgt mit Passau, Straubing und Landshut drei Städte mit Oper, Schauspiel und etlichen Zwischenformen wie Musical und Show. In einem Zweckverband produzieren die Häuser Eigenes und tauschen sich dann aus. Was ist die besondere Kompetenz dieses Konstrukts?
Einmal die Eigenständigkeit, wie Sie schon sagen. Ganz banal muss sich niemand um die Probenzeit auf der Bühne streiten und kann sein Ding ungestört produzieren. Und dann natürlich unsere Logistik. Wie unsere Produktionen von einem Spielort zum anderen reibungslos umziehen, da sind wir schon stolz drauf. Und enorm wirtschaftlich ist das außerdem.

Aber der Intendant muss mit der Politik von drei Kommunen zurechtkommen. Drei Bürgermeister, wechselnde Stadtparlamente und verschiedene einflussreiche Institutionen.
Das ist die dunkle Seite. Aber als Zweckverband schwimmen wir auch oft auf wundersame Weise zwischen den Rathäusern in eigener Selbstständigkeit und Verantwortung. So eine Entscheidung wie jetzt unsere aktuellen Digitalproduktionen haben wir mit niemandem diskutieren müssen.

Welche Themen werden unter dem Eindruck der letzten eineinhalb Jahre in die Programmarbeit fließen? Wehrlosigkeit des Menschen, unerwartete Schicksalsschläge, so etwas? Oder denken Sie, das würde dem Publikum eher auf die Nerven gehen?
Die Frage »Kunst und Tagesschau« stelle ich mir natürlich, seit ich in diesem Beruf bin. Meine Erfahrung ist: Die Kunst läuft der »Tagesschau« nicht hinterher, sondern es ist eher umgekehrt. Stoffe, die man – manchmal ganz arglos – auf den Spielplan gesetzt hat, brennen auf einmal mit Sicht auf das Tagesgeschehen. Die Bühne zeigt natürlich die Grundprobleme des Menschen, und die ändern sich eben nicht. Manchmal treten Dinge an die Oberfläche und werden plötzlich sichtbar. Aber sie sind auch sonst immer virulent. Da müssen wir dem Tagesgeschehen nicht nachlaufen. Diese Betrachtungsweise ist unser Geschäft, und das wird immer funktionieren. August Everding hat mal gesagt: »Im Wohlstand soll das Theater das Publikum verstören, in der Krise soll es die Menschen versichern.« Also, ich bin jetzt eher auf der Suche nach einem Stoff, der von gar nichts handelt. Einfach als Ausgleich zu dem, was die Menschen im Alltag erleben müssen.

Und die gesellschaftliche Kritik, der Spiegel unserer selbst? Erleben wir nicht auch eine Zeit von Eigensinn und Egoismus, Bewertung von Maßnahmen unter eigenen Interessen, Anspruchs- und Luxusdenken – zusammengefasst von juvenilem Trotz- und Antiverhalten?
Ja, ein wunderbares Thema! Der Egoismus des Einzelnen, der sich einem gesellschaftlichen Ziel nicht unterwerfen will. Das meinte ich vorhin mit dem Jaul-Reflex: dieses »Oh, schon wieder ich!«. Man sieht nur sich und die eigene Blase. Das wird kommen und ich bin mir sicher, dass es schon in vielen Stücken verhandelt ist. Die Wahrnehmung des Ich als abgezirkelte und abgegrenzte Instanz ist eines dieser menschlichen Grundprobleme. Der Eine tritt aus der Kohorte vor und setzt seine Interessen und Absichten über die der Gemeinschaft. Das ist seit einem Jahr so sichtbar, wie schon lange nicht mehr in der Geschichte des Menschen. Und als Regisseur, der Bilder schaffen muss, sage ich, das spielen wir uns täglich vor. Ich setze mir eine Maske auf, weil Du, mein Gegenüber, gefährlich bist. Auch wenn es natürlich in diesem Fall mit Verantwortlichkeit zu tun hat, zeigt es doch auch die Isolation des Einzelnen. Damit wird sich Theater immer beschäftigen.

Und was plant der regieführende Intendant für sich selbst?
Also ein Post-Coronastück, wenn Sie das meinen, habe ich jetzt nicht im Kopf. Mein Interruptus war im letzten Jahr die »Walküre«, und die möchte ich natürlich erst mal auf der Bühne sehen. Dann erhebt schon der »Siegfried« sein Haupt. Und ob ich als Regisseur dabei die Finger vom Erlebten und vom Tagesgeschehen lassen kann – da bin ich mir nicht sicher. ||

LANDESTHEATER NIEDERBAYERN
LANDSHUT, PASSAU, STRAUBING

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