Juli Zeh begibt sich in ihrem neuen Roman »Über Menschen« abermals nach Brandenburg und erkundet das Wesen von Vorurteilen und Menschen
Juli Zeh – »Über Menschen«
So fern und doch so nah
Die Vorzeichen sind ähnlich. Und doch ist diesmal alles anders. Wieder eine Berlin-Flüchtige. Wieder Städter auf dem Land. Wieder Brandenburg. Nicht »Unterleuten« diesmal, sondern »Über Menschen«. Juli Zeh begibt sich in ihrem neuen Roman erneut tief in die ostdeutsche Provinz, die so nah an der Hauptstadt ist und doch unendlich weit entfernt. (Und die seit circa 15 Jahren die Wahlheimat der Autorin und Brandenburger Verfassungsrichterin ist.) Dora, die Heldin ihres Buchs, flieht während des ersten Lockdowns vor ihrem coronabesessenen Freund in das Gutshaus, das sie sich in einem Anflug kindlicher Begeisterung fürs Geheime einfach so und ohne konkreten Plan gekauft hat: »Als hypothetischen Notausgang aus dem eigenen Leben.«
Dort begegnet sie erst niemandem und dann Menschen, mit denen sie in ihrem alten Leben als Werbetexterin wahrlich nichts zu tun hatte: Da stellt sich der eine Nachbar forsch als »Dorf-Nazi« vor, um wenig später mit seinen Kumpels das Horst-Wessel-Lied über den Zaun zu grölen. Da kommt ein anderer in R2D2-Montur ungefragt herüber und mäht ihr zugewachsenes Grundstück, als Garnitur gibt’s einen Ausländerwitz. So weit entspricht erst mal alles den klischeebeladenen Erwartungen. Zeh nähert sich dem Landleben durch die Augen ihrer Protagonistin, die die Vorurteile ihrer Familie widerlegen will und ihre eigenen gleichzeitig bestätigt sieht. Doch »Über Menschen« ist nicht nur ein Brandenburg-Roman, es ist ein Corona-, ein Lockdown-, vor allem aber ein Menschen-Roman. Die erzählte Zeitspanne liegt in der ersten Jahreshälfte 2020. Zwischen Social Distancing und Mindestabstand überwindet Dora ganz persönliche Grenzen. Wieder einmal, wie besonders in »Unterleuten« 2016, zeigt sich Juli Zeh als Meisterin der Grautöne. Dieses Buch ist wirklich eines »Über Menschen«. Über Zerrissene, Uneindeutige, Widersprüchliche und sich Wandelnde. Es ist das Abbild einer Welt, die eben nicht nur schwarz-weiß ist, sondern ihr Wesen in vielen Schattierungen zeigt.
Zeh hat einen Blick für die Not der anderen, fragt, warum sie sind, wie sie sind. Wie sie in »Unterleuten« kunstvoll die verschiedenen Perspektiven parallel laufen ließ, aus der Vergangenheit und Gegenwart der Figuren Motivationen erwachsen ließ, die alle gut nachvollziehbar waren, obwohl sie einander diametral gegenüberstanden, war große Kunst. Auch diesmal schaut sie genau hin, belässt es nicht bei den sich anbietenden Klischeebildern, sondern entwirft vielschichtige Figuren. »Da haben wir wohl etwas gemeinsam«, sagt der Nachbar einmal zu Dora. »Wir sind nicht das, was die anderen denken.« Auch darum geht es hier, um das Aufbrechen von Fassaden, den Blick dahinter. Um unerwartete Begegnungen und unverhoffte Bekanntschaften. Und ja: um so etwas wie ein fragiles Glück.
Die beiden großen Brandenburg-Romane von Juli Zeh verbindet mehr als nur der »Kampfläufer«, dieser merkwürdige Vogel, der im ersten eine wichtige Rolle spielt und im zweiten einmal als Zitat durchs Bild läuft. Sie tun sich zusammen zu einem Diptychon über die Konflikte und Kommunikationsgräben in unserer Zeit und unserem Land, machen Entwicklungen sichtbar und Zusammenhänge. Und den schwierigen Umgang mit Menschen, die ins eigene Wertesystem nicht passen wollen. Was tun, wenn der Nazi einem ungefragt ein Bett baut, Stühle renoviert und das leere Haus mit einer Palme wohnlicher gestaltet? Wie geht man um mit Alltagsrassismus, mit einen überrumpelnden Ausländerwitzen? Doras bisherige Taktik, dem aus dem Weg zu gehen, funktioniert hier nicht: »In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben«, erklärt ihr ein anderer Nachbar. »Wirst dich dran gewöhnen müssen.« Juli Zeh gelingt der Spagat zu zeigen, dass Vorurteile oft wahr sind, dass aber auch ein Nazi selten so einfach einzuordnen ist wie die Sprüche, die aus seinem Mund kommen. ||
JULI ZEH: ÜBER MENSCHEN
Luchterhand Literaturverlag, 2021
416 Seiten | 22 Euro
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