Thiemo Strutzenberger:
Sprachakrobat, über Abgründe tänzelnd

thiemo strutzenberger

Thiemo Strutzenberger (re.) spielt in »Graf Öderland« einen gefallenen Staatsanwalt, der zum Axtmörder und Anführer einer tumben Befreiungsbewegung wird © Birgit Hupfeld

Thiemo Strutzenberger hat einen Master in »Gender Studies«, schreibt komplizierte Stücke und hat als Schauspieler gerade einen Lauf. Ein Porträt des mit »Graf Öderland« zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Ensemblemitglieds des Residenztheaters.

Als »intellektuellen Schauspieler« mit einem »gesteigerten Bewusstsein für den Akt des Sprechens« beschrieb ihn die Kritikerin Margarete Affenzeller im Magazin »Theater der Zeit«. Etwas davon spürt man selbst im Gespräch via Zoom, in dem Thiemo Strutzenberger seinen in Worte gegossenen Gedanken die unterschiedlichsten Tempi und Farben verleiht. Stoffe sprachlich zu durchdringen, sagt er, sei ohnehin sein Ding: »Das ist eigentlich das Erste und fast das Einzige, was ich mache.« Für durchaus etwas mehr wurde dem 39-jährigen Oberösterreicher, der seit Beginn der Intendanz von Andreas Beck zum Ensemble des Residenztheaters gehört, gerade der 3sat-Preis zugesprochen. Strutzenberger spielt die Titelrolle in Stefan Bachmanns Inszenierung von Max Frischs »Graf Öderland«-Moritat, die im Februar 2020 am Theater Basel herauskam und längst schon im Resi hätte München-Premiere feiern sollen. Im Mai kann man nun wenigstens die Aufzeichnung in der 3sat-Mediathek abrufen oder bei der Online-Ausgabe des Berliner Theatertreffens sehen. Das lohnt sich als mitreißendes musikalisches Bildertheater, das zeigt, wie schnell Entfremdung und zivilgesellschaftlicher Überdruss in Aggression umschlagen können. Und weil Strutzenberger den Aggressor spielt – einen gefallenen Staatsanwalt, der zum Axtmörder und Anführer einer tumben Befreiungsbewegung wird. Während Volker Lösch dieser Bewegung 2015 das Pegida-Mäntelchen überstülpte, bleibt Bachmanns Ansatz maximal deutungsoffen. Hatte das Team kurz vor dem ersten Lockdown noch den politischen Borderliner Trump im Kopf, liegt jetzt die Assoziation mit Querdenker-Wutbürgern nahe. Für Strutzenberger selbst aber »war das Haupttor in die Arbeit das Traum-Wirklichkeits-Thema jenseits dieser Staatsanwalt-wird-Gangster-wird-Tyrann-wird-Präsident-Geschichte; die Idee, dass diese Figur in eine surreale Welt hineingezogen wird, die sie für einen Traum hält und die generelle Frage stellt, wie ungreifbar die Wirklichkeit eigentlich ist«.

Wie Strutzenberger auf der Grenze zwischen diesen Welten tänzelt und taumelt, unruhig, unberechenbar, omnipotenz-trunken, heiter und eiskalt – mit Worten und dem Körper, das muss man gehört und auch gesehen haben! Für eine ganz andere Grenzüberschreitung war Strutzenberger 2014 für den Nestroy-Preis nominiert. Damals spielte er den schwulen SS-Mann Maximilian Auer in Antonio Latellas Adaption von Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten« am Schauspielhaus Wien als »schillernden Tabubrecher, der das Böse alltagstauglich (und) das Abstoßende anziehend macht«, wie die Jury schrieb. Für Strutzenberger »eine Hardcoreerfahrung, die nicht ohne Nervenzusammenbrüche zuging«.

Danach dachte er kurz: »Jetzt kann ich alles spielen.« Heute sagt er: »Figuren, die durch ein Prisma geworfen werden können und nicht nur in eine Richtung Farbe zeigen, faszinieren mich schon.« Da, wo es Brüche gibt, fange sein Gestaltungswille an. Der beschränkt sich allerdings nicht nur aufs Spielen. Schon als Schüler hat Thiemo Strutzenberger mit dem Schreiben begonnen und neben seinem Studium am Max Reinhardt Seminar und Engagements am Burgtheater, Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Neumarkttheater Zürich, Schauspielhaus Wien und Theater Basel nicht damit aufgehört. Und einen Master in »Gender Studies« hat er auch. Reicht ihm die Bühne nicht für die Raumansprüche seines Intellekts? »Ich muss gedanklich gefordert sein im Spiel, andernfalls muss ich es mir woanders holen, um mich lebendig zu fühlen«, sagt Strutzenberger. Aber beides gehöre zusammen, und wenn er nicht spielen kann, falle ihm auch das Schreiben schwer, »das seinen Anlass zieht aus den Vorstellungen, Proben und Betrieblichkeiten und dem, was mir dabei fehlt«.

»Betrieblichkeiten« ist so ein Strutzenberger-Wort, wie es auch in einem seiner historisch grundierten Stücke fallen könnte, die »Hunde Gottes«, »The Zofen Suicides« oder (wie das in München uraufgeführte) »Preis des Menschen« heißen und oft schwer an den Foucault- und Judith-Butler-Lektüren ihres Autors tragen. Tatsächlich höre er öfter, er solle die Theorie weglassen beim Schreiben, gibt Strutzenberger zu. »Ich weiß aber nicht immer, wie ich sonst denken kann.« Dann überlegt er laut: »Vielleicht ist die Theorie aber auch nur ein Sicherheitsgeländer. Was würde mit der Sprache passieren, wenn man sich nicht mehr festhalten würde?«

In Strutzenbergers Spiel kann man erleben, was das Loslassen mit dem Sprechen macht. Darin nämlich geht er volles Risiko ein und lässt einen ganz eigenen Rhythmus entstehen. Und auch im Gespräch prescht er manchmal unversehens davon, wird ganz leise oder unterstreicht jedes einzelne Wort: »Mich haben Leute weitergebracht, die mich gefordert und überfordert haben«, sagt er – und jetzt kommen die Unterstreichungen –, »und dann ist es irgendwann nicht mehr die Frage, wer hat mich weitergebracht, sondern: Wie bringt man sich gegenseitig weiter.« Es ging gerade darum, warum Strutzenberger es heute wichtiger findet als früher, Figuren psychologisch zu durchdringen, »ihre Wahrheit aufzuspüren«. Es kam wohl mit den Klassikern und kanonischen Figuren, zu denen hin man sich stärker strecken muss. »Das psychisch-seelische Feld muss für sie breiter werden«, sagt er. Und das gehe nur in einer angstfreien Atmosphäre: »Gegenseitiges Vertrauen ist das totale A und O, Respekt für die Fantasie des anderen, eine gewisse Feinheit im Umgang und die Sensibilität dafür, dass weder Schauspieler*innen noch Regisseur*innen etwas sind, wo man nur draufdrücken muss und dann kommen Inszenierungen dabei heraus.« Diese freundliche Mixtur führe oft zu Arbeiten, »die auf die eine oder andere Art verführerisch sind«, was man, wie er hofft, auch sehen kann – zum Beispiel bei »Öderland«, und vielleicht auch bei Nora Schlockers Schimmelpfennig-Uraufführung »Der Kreis um die Sonne«, die im Residenztheater seit Langem in der Premieren-Warteschleife hängt, obwohl sie den Vorabend der Pandemie beschreibt, in der möglicherweise alles endet. Zumindest alles, was wir kannten. Der Abend, sagt Thiemo Strutzenberger, sei »ein verspielter musikalischer Tanz auf dem Vulkan« und ein von vielen Stimmen erfüllter »Sprachraum«. Klar, wenn er dabei ist! ||

GRAF ÖDERLAND
ab 15. Mai 120 Tage in der Mediathek und am 17. Mai im Stream des Berliner Theatertreffens.

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