Flaneurin, Frauenrechtlerin, Salondame – und vor allem eine Schriftstellerin, die man mehr beachten sollte: Das alles ist Carry Brachvogel. Sollten Sie die Dame hinter »Im Weiß-Blauen Land« noch nicht kennen, Florian Welle stellt sie Ihnen gern vor.

Carry Brachvogel: Eine Münchner Autorin

carry brachvogel

»Frau Carry Brachvogel« (so der Titel eines Rilke-Gedichts), selbstbewusst mit Zigarette © Quelle: Münchner Stadtmuseum

1923, also vor bald 100 Jahren, erschien Carry Brachvogels Buch »Im Weiß-Blauen Land«, in dem sie »Bayerische Bilder« versammelte. Die gebürtige Münchnerin streift offenen Auges durch ihre Heimat, wandert nach Altötting, macht bei einer der neu ins Leben gerufenen »Vergnügungsfloßfahrten« mit und flaniert durch den Englischen Garten. Daneben widmet sich die damals deutschlandweit bekannte Schriftstellerin und engagierte Frauenrechtlerin den »Münchner Frauen« im Allgemeinen, den »Münchner Kellnerinnen« im Speziellen. Brachvogel ist hier, wie in ihren zahlreichen Romanen und Biografien berühmter Herrscherinnen, eine Meisterin der Charakterzeichnung, die auch ausgesprochen spöttisch und scharfzüngig sein kann: »Die Natur ist ja auch wirklich nicht allzu freigiebig gegen die Münchnerin gewesen, hat ihr weder die weichen Formen der Wienerin, noch die Huschelanmut der Pariserin, noch die blendenden Farben der Nordländerin
geschenkt. Ihr Wuchs ist nicht selten derb, ihre Haut nicht durchsichtig, ihr Haar gemahnt weder an die Lorelei noch an eine Mähne; aber wenn sie lächelt, blitzen in ihren grauen oder nussbraunen Augen reizende kleine Funken auf und ihr frischer Mund verrät, dass sie Humor besitzt, wirklichen Humor …«

Von heute aus blicken wir auf Brachvogels München in etwa so, wie die 1864 als Karoline Hellmann in eine gut situierte jüdische Familie Hineingeborene auf die Stadt im Jahr 1820. In dem Text »München 1820« blättert sie in einem alten französischen Reiseführer und entnimmt ihm, »wie unsere Stadt vor etwa hundert Jahren aussah«, als diese gerade im Begriff war, sich ordentlich zu mausern. Noch gibt es keine Pinakotheken, ist die Glyptothek ein Solitär, und die Stadt nicht tonangebend in künstlerischen Belangen wie Jahrzehnte später – Carry Brachvogel wird um die Jahrhundertwende mit ihrem Salon eine Zentralgestalt dieses neuen, leuchtenden Münchens sein. »Die Dame des Hauses, als feingebildete Jüdin, voll gepfefferter Bosheit und schlagfertigem Geiste«, schreibt Ernst Freiherr von Wolzogen in seinen Erinnerungen, »war der starke Magnet, der sowohl Einheimische als zugereiste Gäste an den Teetisch am Siegestor lockte«. Unter ihnen befand sich auch Rilke, der der Gastgeberin »treffenden Witz« attestierte.

Auch wenn die eine oder andere Formulierung im »Weiß-Blauen Land« heute altmodisch anmutet: Brachvogel zeigt sich in den locker hingetupften Skizzen einmal mehr als moderne Schriftstellerin, die vollkommen zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, nachdem sie das KZ Theresienstadt, in das sie von den Nazis im Juli 1942 gemeinsam mit ihrem Bruder Siegmund deportiert wurde, nur wenige Monate überlebte. Man sollte sie wieder lesen. Ein allzu frommer Wunsch? Schließlich hatten auch umfangreiche Bemühungen um ihre Wiederentdeckung bislang nur begrenzt Erfolg. So gibt es seit 2012 in München-Bogenhausen eine Carry-Brachvogel-Straße, drehte der Bayerische Rundfunk ein Jahr später eine Dokumentation, und schrieb wieder ein paar Jahre später Judith Ritter die erste Monografie über die »Literatin, Salondame, Frauenrechtlerin«. Und so ist das Fazit, das Ingvild Richardsen in ihrem klugen Nachwort zur 2013 im Allitera Verlag erschienenen Neuauflage von »Im Weiß-Blauen Land« zog, weiterhin gültig: »Eine umfassende Würdigung und Anerkennung ihrer Person, insbesondere auch ihres literarischen Werkes, hat aber bis heute nicht stattgefunden.«

Es ist dem Allitera Verlag in Zusammenarbeit mit der Monacensia hoch anzurechnen, dass noch weitere Arbeiten der produktiven Schriftstellerin wieder zu bekommen sind. So etwa ihr 1895 bei S. Fischer erschienenes Debüt »Alltagsmenschen« und das Buch mit dem sprechenden Titel »Der Kampf um den Mann« von 1910. Beide Romane beleuchten ebenso humoristisch wie schonungslos das Verhältnis der Geschlechter. Brachvogel hält der bürgerlichen Gesellschaft, in der der Lebensinhalt der Frauen darin bestand, eine anständige Partie zu machen, den Spiegel vor. »Wie hübsch das ist«, heißt es in »Der Kampf um den Mann« ironisch, »ein so kluger Mann und eine so schöne Frau!«.

Sie selbst entzog sich der Konvention, nachdem ihr Mann, der Schriftsteller und Journalist Wolfgang Brachvogel, 1892 im Tegernsee ertrunken war. Entgegen der Gepflogenheiten ging die 28-jährige Mutter zweier Kinder keine Versorgungsehe ein, sondern reüssierte als unabhängige Feuilletonistin und Schriftstellerin. Was fortan allein zählte, war die Arbeit. »Es gibt gar nichts Schöneres, als den ganzen Tag zu arbeiten«, schreibt sie einmal. Damit führt sie ein emanzipiertes Leben, das das Gegenteil vom »Lilienaufdemfelddasein« ist, unter dem Elisabeth aus den »Alltagsmenschen« so leidet. Auch neben dem Schreiben engagierte sich Brachvogel für Gleichberechtigung. 1903 trat sie dem »Verein für Fraueninteressen« bei, 1913 war sie Mitbegründerin des ersten Münchner Schriftstellerinnenvereins. Zwei Jahre zuvor hatte sie in dem Vortrag »Hebbel und die moderne Frau« unmissverständlich formuliert: »Modern sein heißt für die Frau ein eigenes Gesetz in der Brust tragen, dessen Erfüllung ihr vielleicht nicht banales Glück, gewiss aber das höchste Glück der Erdenkinder gewährt: die Persönlichkeit.«

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