Es geht um mehr als ein Spielverbot. Ein Jahr Lockdown verändert Selbstverständlichkeiten. Zum Beispiel für Musiker.
Musiker im Lockdown: Ein Kommentar von Alex Haas
Freiheit, am Ende
Alex Haas gehört zu denen, die nicht zählen. Er ist Musiker, freischaffend, ohne Kurzarbeitsberechtigung, und war bis Mitte März 2020 mit sich im Reinen. Ein Leben voller Konzerte mit Bass und Banjo, tollen Bands von der Hochzeitskapelle über Estampie bis Unsere Lieblinge. Und der Freiheit, für sich und seine Kunst verantwortlich sein zu können. Seit der Seuche ist er, wie viele andere, nahezu vollständig weggesperrt und darf nicht tun, was er kann. Und in seiner LockdownKlause wundert er sich manchmal nur noch. Ein Zwischenruf.
Eigentlich hätte mein Jahr 2020 so aussehen sollen: knapp 200 bis 250 Konzerte, nah, fern, groß, klein, fein, unfein, aber immer mit guten Bands, angenehmen Kollegen und einem Publikum, das den Saal anders, verändert, verlässt, als es ihn betreten hat. Wie ein befreundeter Musiker immer sagt: »Musik ist ein soziales Ereignis.« Womit er recht hat und einen der Sätze geprägt hat, die immer wahr bleiben werden. Und dann: Virus. Zack, aus, Ende. Abgesehen von einigen Ausnahmen habe ich meinen privaten kompletten Lockdown erlebt. Als Musiker ein Jahr mehr oder weniger arbeitslos. Das ist nicht so einfach wegzustecken. Und: Ich bin müde. Müde der dauernden Lockdowns. Müde der nicht enden wollenden medialen Dauerberieselung mit Todeszahlen, Neuinfektionen, Inzidenz und RWerten. Müde der nicht enden wollenden Maßnahmen einer Regierung, die es nicht schafft, Maßnahmen umzusetzen, von denen sie eigentlich überzeugt ist, weil es anscheinend unmöglich ist, eine Zeitlang mit Konsequenz zu handeln. Und die Konsequenzen dieser Handlungen zu tragen. Ach Gott, die Wiederwahl ist nicht alles. Die Konsequenz der seit einem Jahr immer wieder aufgeweichten weichen Lockdowns ist der immer wieder nächste Lockdown. Und das ist härter als der härteste Lockdown. Lockdown. Lockdown. Lockdown. Lockdown. Lockdown. LockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdownLockdown …
Beim sogenannten »Sturm« auf den Reichstag gab es einen seltsamen Moment. Ein Mann mit städtischem Holzfällerbart stand vor einem der zwei Polizisten und schrie: »Freiheit! Ich will Freiheit für mich und meine Kinder!« Freiheit ist ein komplexer Begriff. Freiheit von und zu, Freiheit für, gegen, nach, über und so fort. Komplex dachte der Bartträger in seiner Verzweiflung wohl weniger, ich fürchte, mehr als »Der Mann aus den Bergen« war nicht drin. In mancher Hinsicht aber war er ein Zeichen. Ich hatte nur auf einmal den Gedanken, dass ich in all den Jahren als Musiker dem Begriff der Freiheit wirklich ziemlich nahegekommen bin. Ich konnte sehr gut von und mit dem leben, was mich erfüllt wie sonst nichts, und dabei noch erleben, wie Menschen bewegt und manchmal verändert aus dem Konzert gingen. Ich konnte jeden Ort besuchen, der mir einfiel, jeden Menschen treffen, den ich wollte, konnte jedes Medium benutzen, das mir gefiel, konnte Konzerte, Museen, Theater besuchen, selbst wenn sie hammermäßig subversiv waren. Das alles bei funktionierender Infrastruktur, der Müll wird abgeholt, es gibt fließendes Wasser und auch Toiletten, die uns Typhus ersparen. O.k., es gibt Steuern und Gesetze. Das ist aber in einem Staatswesen mit knapp 80 Millionen Individuen nicht so schlecht, wenn man Schulen, Straßen, Kinos, Krankenhäuser und eine Menge anderer Dinge haben möchte. Dann verzichte ich persönlich auch sehr gern auf Anarchie. O.k., es gibt Unrecht, manchmal auch staatlicherseits. Allerdings mit dem großen Vorteil, dass es nicht institutionalisiert ist, sondern immer wieder auch aufgedeckt und geahndet wird. Ja, ich glaube, ich habe in einer der besseren aller Welten gelebt.
Zurück zur Freiheit: Es ist eine andere Freiheit als die, die jener Bartträger meinte. Der Mann aus den Bergen sitzt vor seiner Blockhütte (die er erst mal bauen muss), fängt ein, zwei Wildtiere zum Essen (die er erst mal jagen und zubereiten muss, nachdem er sich irgendwie Pfeil und Bogen gebastelt hat), baut vielleicht etwas Gemüse an (das er erst mal kultivieren muss – ohne Saatgut), trinkt sein Bergwasser (das er erst mal vom Fluss holen muss). Danach überlebt er mit Glück die Blutvergiftung, die er sich beim Bau der Behausung zugezogen hat, schafft es, die Lebensmittelvergiftung zu bewältigen, die Wildtier und Wassergenuss provozierten (abgesehen von de leckeren Vogelbeeren) und hofft, nicht zu erfrieren, weil sein Ofen qualmt, die Hütte zugig und das Holz noch feucht ist.
Und man versucht sich dann von dieser Illusion der Freiheit zu erholen. Freiheit im System hat viele Vorteile. Überleben in der großen Gruppe als Schutzraum zum Beispiel. Ich glaube, lebbare Freiheit ist nur innerhalb eines Systems möglich, welches auch diese Freiheiten ermöglicht. Und da sind wir sehr nah dran. Vergesst Adorno. Freiheit wird gerade immer wieder beschworen und eingefordert, die Aufweichung der Grundrechte. Es werden die Maßnahmen grundsätzlich kritisiert und vorgerechnet, wer jetzt an und mit dem Virus gestorben sei, dass alles nur eine fette Grippe sei, dass die Alten sich ja selbst zurückziehen könnten – ein Paradies für Sozialdarwinisten.
Und ich ertappe mich in den letzten Monaten zuweilen bei dem Gedanken, dass die Einschränkungen jetzt aber langsam mal … und so weiter … und es sollte doch bitte mal hopphopp. Auch weil ich gerne mal wieder meinem Beruf ganz normal und nicht so ausnahme und almosenmäßig nachgehen würde. Das ist das Schlimmste: Kunst wird als Dreingabe dargestellt. Nicht »systemrelevant«. Als ob es eine systemimmanente Systemirrelevanz gäbe. Bis vor einem Jahr waren Pflegeberufe schlecht bezahlte Depperljobs, die wegrationalisiert werden mussten. Jetzt sind es (immer noch schlecht bezahlte) Beklatschberufe, die möglichst die Crème de la Crème der Jugend ergreifen sollte, weil sie auf einmal irrsinnig grundlegend sind. Ich bin gespannt, was passiert, wenn das nächste Virus kommt, das nur durch das Absingen von gregorianischen Chorälen besiegt werden kann, weil es durchs Ohr geht. Heldenstimmen, plötzlich sehr gefragt. Ich denke, eine wirklich freie Gesellschaft hat die Pflicht, sich der Pandemie entschieden und klar entgegenzustellen und das Virus zu integrieren, wenn es schon nicht besiegt werden kann. Und wenn es vorübergehend Einschränkungen gibt, sollten diese mit aller Kraft durchgehalten werden, um dann wieder mit aller Kraft zurückgenommen zu werden, sobald die Katastrophe bewältigt ist. Gutes könnte aus der Pandemie mitgenommen werden (Kohle für Pflege und Sozialberufe), Schlechtes in den Orkus geworfen werden (Optionsgeschäfte mit Schweinebäuchen und Kreuzfahrtschiffe zum Beispiel). Aber die nächste Wahl winkt mit Unentschlossenheit, und so werden wir einen Lockdown nach dem anderen erleben. Und noch
einen. Und noch einen.
Ich fürchte, ich werde mich meiner Müdigkeit stellen müssen. Denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Lockdown. Und Freiheit, im Blick. ||
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