Gleich zwei neue Bücher beschäftigen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit Leben und Werk des legendären »Master of Suspense« Alfred Hitchcock.

Alfred Hitchcock: Der doppelte Hitch

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Es besteht kein Zweifel: Die Legende lebt! Auch 40 Jahre nach seinem Tod geht von Leben und Werk des britisch-amerikanischen Regisseurs Alfred Hitchcock eine Faszination aus, die in steter Regelmäßigkeit neue Sekundärwerke in allen medialen Bereichen über ihn hervorbringt: Sei es die Verfilmung eines Lebensausschnitts in dem mit Anthony Hopkins und Helen Mirren namhaft besetzten Biopic »Hitchcock«; sei es ein abendfüllender Dokumentarfilm, der sich en détail mit der im globalen kollektiven Gedächtnis tief verankerten Duschmord-Sequenz aus dem schwarz-weißen Klassiker »Psycho« (1960) beschäftigt; sei es die Autobiografie einer seiner Hitchcock-Blondinen, Tippi Hedren, die sich in ihrem 2018 publizierten Memoir, das eigentlich ihr ganzes Leben beschreiben soll, letztlich vornehmlich mit ihrem wichtigsten Regisseur und ihren beiden wichtigsten Kino-Arbeiten, »Die Vögel« (1962) und »Marnie« (1964), auseinandersetzt. Das Phänomen Hitchcock ist multimedial omnipräsent und lange schon im internationalen Kulturkanon und dessen Rezeption angelangt.

Da nimmt es wenig Wunder, dass anlässlich des 40. Todestages des Master of Suspense 2020 gleich zwei neue Hitchcock-Novitäten auf dem Buchmarkt erschienen sind, die nun auch druckfrisch auf Deutsch vorliegen. Beide Neuerscheinungen stammen ursprünglich aus Frankreich, jenem Land, das dem filmischen Schwergewicht in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit analytischen Essays und profunden Interviews in den legendären Cahiers du Cinéma die höheren Weihen des Autorenfilmers zukommen ließen, die ihm in seinen beiden (Heimat-)Ländern bis dato versagt blieben. Nicht umsonst gelten die Cahiers-Kritiker und späteren Nouvelle Vague-Regisseure Claude Chabrol, Eric Rohmer und François Truffaut als die europä- ischen Entdecker Hitchcocks, die ihn aus der banalen Krimischublade in die verdiente »auteur«-Kategorie hievten. Bis zu seinem Lebensende blieb »Hitch«, wie ihn Freunde und Schauspieler nur nannten, Truffaut freundschaftlich verbunden.

»Hitchcock. La Totale« (deutsch: »Alfred Hitchcock. Alle Filme«) ist mit seinen voluminösen 650 Seiten über satte zwei Kilo schwer und dürfte fortan eine Art neue »Hitch«-Bibel darstellen: Das von vier französischen Autoren und Autorinnen erarbeitete Kompendium erzählt Hitchcocks Leben in Wort und Bild in strenger Chronologie und es beschreibt auch alle 53 Spielfilme. Text und Bild sind dabei paritätisch gewichtet, sodass es der Band auf beeindruckende 490 Abbildungen bringt, darunter einige, die bislang nur selten zu sehen waren: Filmstills, Storyboards und auch private Fotografien von Hitch, seiner Frau Alma und Tochter Patricia. Man kann von den diversen Textteilen, die über das ganze Buch verstreut sind und in ihrer Konzentration eher lexikalischen denn narrativen Charakter haben, hinüber zu den wunderbaren, teils ganzseitigen Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografien schweifen. Jedem der 53 Filme – entstanden zwischen 1926 und 1976 – ist das ganzseitig abgedruckte farbige Originalplakat vorangestellt, die sich anschließende Textanalyse ist stets in vier Partien unterteilt: Vorgeschichte – Besetzung – Dreharbeiten – Rezeption. Nettes Aperçu dabei sind farbig untermalte Kästen, die sich in jedem Filmtext wiederfinden. Darin wird auf Hitchcocks traditionelle Cameo-Auftritte ebenso verwiesen wie auf produktionstechnische Finessen oder werkimmanente leitmotivische Themen. Je nachdem, wie viel Vorkenntnis die cinéphile Leserschaft mitbringt, stellt dies eine ebenso anregende wie scheinbar beiläufige Art dar, sein Hitchcock-Wissen zu testen oder zu vertiefen. Der französische Originaltitel bringt es treffend auf den Punkt: Dieses neue Buch, gewichtig wie sein Subjekt, ist schlichtweg »La Totale«.

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Die zweite Hitchcock-Novität, die es aus Paris in die deutsche Verlagswelt geschafft hat, ist eine Graphic Novel, die erste ihrer Art über den Regie-Genius. Noël Simsolo, selbst Regisseur und Verfasser mehrerer Graphic Novels, und Zeichner Dominique Hé widmen Hitchcocks Leben und Werk zwei Bände, und sie setzten die Teilung dabei sinnvoll und passend im Jahr 1939 an, jenem schicksalhaften Jahr, in dem Hitchcock nach 40 Jahren seine Londoner Heimat für immer verlässt und mit seiner kleinen Familie nach Amerika übersiedelt, um dort unter Produzent David O. Selznick seinen Hollywood-Einstand zu inszenieren, die Adaption von Daphne du Mauriers Roman »Rebecca« (1940). Band eins trägt daher den stimmigen Untertitel »Der Mann aus London«.

Angelegt haben Simsolo und Hé die Geschichte in Grautönen, es gibt, mit Ausnahme des Covers, keine Farbe. Eine Erzählung in Schwarz-Weiß also, recht konventionell und eher grob in der Zeichnung, retrospektiv dargestellt aus Hitchcocks Perspektive, im Jahr 1954, als er mit seinen Lieblings-Akteuren Grace Kelly und Cary Grant »Über den Dächern von Nizza« dreht. Noël Simsolos teasert derart viele Motive und Sujets aus Leben und Werk an, dass dem Lesenden je nach Vorkenntnis durchaus eine Menge entgehen kann. Für »Der Mann aus London« gilt daher die Sentenz: Man sieht nur, was man weiß. Das tut dem 160-seitigen Band leider ziemlichen Abbruch. Band zwei, der im Herbst 2021 erscheinen soll, behandelt Hitchcocks zweite 40 Lebens- und Arbeitsjahre in den USA und damit die ungleich populärere Phase mit zeitlosen Kultfilmen wie etwa »Das Fenster zum Hof«, »Der unsichtbare Dritte«, »Vertigo« oder »Die Vögel«. Bleibt daher zu hoffen, dass hier mit steigender Vorkenntnis auch die Lesefreude an der Graphic Novel wächst, diesem Buch aus Paris, der Stadt, in der Hitchcock zum zweiten Mal neu entdeckt und zugleich rehabilitiert wurde. Damals, in den späten Fünfzigern. ||

BERNARD BENOLIEL, GILLES ESPOSITO, MURIELLE JOUDET, JEAN FRANÇOIS RAUGER: ALFRED HITCHCOCK. ALLE FILME
Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2020
648 Seiten | 78 Euro

NOËL SIMSOLO, DOMINIQUE HÉ: ALFRED HITCHCOCK 1: DER MANN AUS LONDON
Splitter Verlag, Bielefeld 2020 | 160 Seiten
24 Euro

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