Mit Davide Enias Monolog »Finsternis« kommt Robert Dölle der menschlichen Tragödie an den Rändern Europas und seinem Zoom-Publikum nah.

»Finsternis«: Wir sind alle »Söhne und Töchter einer Überfahrt übers Meer«

finsternis

Robert Dölle holt das unfassbare Elend der Mittelmeer-Flüchtlinge in die Küche | © Residenztheater

Mehr als 200 Mal hat der italienische Schriftsteller Davide Enia den Monolog selbst gespielt, den er aus seinem Romanbericht »Schiffbruch vor Lampedusa« kondensiert hat. Nun ist es der Schauspieler Robert Dölle, der in der vierten Zoom-Premiere des Residenztheaters tief in das Flüchtlingselend vor der zwischen Sizilien und Afrika liegenden Insel eintaucht. Der Text besieht dieses Elend von außen, filtert es durch die Augen der Helfer vor Ort. Dölle tritt ihm Auge in Auge mit der Laptopkamera gegenüber, in die er zuweilen zeigt und gestikuliert, als stecke es darin. Und er spricht darüber an der Küchenzeile, während er die Espressomaschine füllt und Orangen einkocht. Diese Tätigkeiten gehen als Übersprungshandlungen durch wie als Anknüpfungspunkte an das Lampedusa von gestern, als die Insel dem jungen Davide ein sonniges Urlaubsrefugium war und die »Finsternis«, die dem Stück seinen Namen gibt, noch nicht alles überschattete.

Fast verbietet es sich, die deutschsprachige Erstaufführung dieses dringlichen, drängenden Textes ästhetisch zu bewerten. So wichtig ist er gerade in diesen Zeiten, wo wir in Europas sichersten Häfen unsere Lockdown-Schicksale bejammern, während halb ertrunkene Kinder auf hoher See wie Bälle in die Heckklappen von Rettungsschiffen geworfen werden. Vorausgesetzt, sie haben Glück. Theoretisch kennt man all die Fakten, von denen Dölle in Enias Worten erzählt. Enia macht sie nur persönlicher, weil er die Rettungstaucher, Fischer, Totengräber und auch die Pathologin kennt, die zu viele der 368 von Fischen und Salz »entmenschlichten« Eritreer und Somalier seziert hat, die am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa starben.

Sein größter erzählerische Kniff aber besteht darin, dass er das erbärmliche Versagen Europas an seinen Grenzen mit dem persönlichen Leid des autobiografischen Ich-Erzählers verschneidet, der während seines Besuches auf Lampedusa seinen Onkel an den Krebs verliert. Dieser jedem unmittelbar zugängliche Schmerz lässt einen hinter die abstrakten Zahlen blicken und fühlend erahnen, was jedes einzelne verlorene Menschenleben bedeutet. Für ein Europa, das sich nur noch um sich selbst dreht, ist dieser kleine, von Nora Schlocker inszenierte Abend auf Zoom (und hoffentlich bald auch auf der Bühne) eine Pflichtveranstaltung – und ein Weckruf. Er endet mit der Sage von der phönizischen Prinzessin namens Europa, die Zeus nach Kreta entführte. Dass sein letzter Satz »Wir sind die Söhne und Töchter einer Überfahrt übers Meer« einem nicht in den Klamotten stecken bleibt, liegt auch an Robert Dölle, dem die Tränen in den Augen stehen, wenn er von der letzten Begegnung mit Onkel Beppe erzählt, aber dem dicksten Pathos in Enias Text widersteht und alle Emotionen gerade nur so groß und laut werden lässt, als wären wir in seiner Bühnenküche zu Gast und säßen gleich neben der Arbeitsfläche, wo die zweite Kamera positioniert ist. Dölle schafft es, uns zugleich persönlich nahezukommen wie sich durchsichtig zu machen für die Menschlichkeit selbst, die sich an den Grenzen von Bollwerken und an den Grenzen des Begreifbaren immer wieder neu beweisen muss. ||

FINSTERNIS
Residenztheater | online | 31. März | 19.30 Uhr
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