Die Bayerische Staatsoper streamt einen reichlich irritierenden »Freischütz« und eine wundervoll überraschende »Geschichte vom Soldaten«.
Bayerische Staatsoper: Nur keine Romantik & Blick ins Welttheater
Der Freischütz
In der 1990 gescheiterten »Freischütz«-Neuinszenierung donnerte im Nationaltheater der damalige Schauspieler Klaus Bachler die tödlichen »Freikugel«-Bedingungen Samiels ins Theaterrund der Staatsoper. Jetzt hätte der Intendant Nikolaus Bachler in seiner letzten Saison nochmals mit einem Geniestreich auftrumpfen können. Doch sein Regisseur sah alles anders. Betont gegenwärtig lehnt Dimitri Tcherniakow überirdische »Freischütz«-Gegebenheiten wie Gottesglaube und Eremiten, Teufelspakte und Samiel ab. Er siedelt die Handlung im Hier und Heute an, muss also viel in die Moderne übersetzen, neue Texte etwa für die dann stummen Figuren über der Bühne. Als sein eigener Bühnenbildner hat Tcherniakow das Veranstaltungsareal eines Hotels mit raumteilenden Holzelementen als Einheitsbild gewählt. Im vorderen Saal feiert ein Oligarch oder Boss (imposant mit dicker Havanna Bálint Szabó) mit einer Business-Society ohne Masken und Abstand (tapfer klangschön der Staatsopernchor in der Einstudierung von Stellario Fagone), bedient von Hotelpersonal mit Maske. Man säuft Bier aus der Flasche.
Der Probeschuss besteht darin, aus dem Hotelfenster wahllos einen Passanten zu ermorden. Dafür kommt Tcherniakows zweite Neuheit abermals zum Einsatz: Auf der Leinwand oberhalb der Bühne blicken wir mit Max durchs Zielfernrohr und sehen bei Kilians Schuss das Gehirn des Getroffenen spritzen. Später erst wird vorgeführt, dass das ein Fake-Filmchen war. Damit wir auch verstehen, dass Max ein Weichei ist, läuft er in einer ärmlichen Strickjacke herum, Typ Oberbuchhalter. Diesen panischen Normalo schleift Kaspar, ein wohl traumatisierter Kriegsheld, später in den abgedunkelten Saal als »Wolfsschlucht« in einem Plastiksack herein. In einer Ölsardinendose mixt er diese speziellen Kugeln und ballert damit lustvoll herum. Da fehlt jegliche Horror-Atmosphäre. Einzig beeindruckende Regie-Idee für Kaspar, die der kernig-böse Bariton Kyle Ketelsen auch bewundernswert umsetzt: aus seinem Trauma heraus antwortet er als »Samiel« mit gepresst abgedunkeltem Bass sich selbst und beschwört sein Ende.
Der ansonsten eher enttäuschenden Inszenierung entsprechend zieht sich aber Agathe in eben diesem Saal – und nicht in einer Luxus-Suite – zur Hochzeit um. Woher Ottokar kommt, bleibt unklar, ebenso der Auftritt des Eremiten. Dafür spielt all das in halbhellem Nacht-Blau, unklar in den Bezugnahmen, unübersichtlich im Konzept. Trost für die ohne Pause gestreamte Aufführung kam aus dem auf Abstand sitzenden Staatsorchester unter Antonello Manacorda. Die auf gute Übertragungsqualität zielende Aussteuerung ließ die Besonderheiten der Orchesterfassung von Eberhard Kloke zwar nicht so recht erkennen. Doch Manacorda vermied alle spätromantische Aufladung der Emotionen und bezog den Gesamtklang auf die damals lebenden Beethoven und Schubert, schlank, klar, melodieselig, wo es musikalisch Sinn macht. Darin folgte ihm ein exzellentes Solistenensemble. Neben dem fiesen Kaspar von Ketelsen glänzt der tenoral fast zu gesund strahlende Max von Pavel. Aus Ännchen hatte Tcherniakow eine zweite Tilda Swinton, ergo eine strahlende Anna Prohaska geformt. Sie alle überragte Golda Schultz. Ihre Agathe klang nach Sopran-Sonnenschein-Gold, dabei weich, mühelos geformt und herzenswarm – eine Verneigung wert.
CARL MARIA VON WEBER: DER FREISCHÜTZ
Stream bis 15. März
Geschichte vom Soldaten
Die Geschichte vom Soldaten Igor Strawinskys genreübergreifendes Mini-Opus für sieben Instrumentalisten, einen Dirigenten, drei Darsteller und einen Vorleser sollte im Herbst 1918 die Theaternöte überbrücken. Denn auch in der neutralen Schweiz herrschte Mangel allenthalben. In Anlehnung an ein russisches Märchen schuf Librettist Charles Ramuz ein Gleichnis: Ein armer Soldat hat Urlaub, der Teufel bittet um drei Tage Geigenuntericht im Tausch für ein Reichtum bringendes Buch. Durch diabolische Täuschung werden daraus drei Jahre. Niemand im Dorf erkennt mehr den Rückkehrer und seine Liebste ist längst verheiratete Mutter. Enttäuscht nutzt der Soldat den Buch-Zauber und wird ein reicher Mann – nur ohne Liebe. Doch als er dem betrunken gemachten Teufel die Geige abgewinnt und mit deren Klängen eine kranke Prinzessin heilt, scheint sein Glück vollkommen. Nur will die Prinzessin seine Heimat kennenlernen, in die er nicht zurückkehren darf. Als er es ihr zuliebe doch tut, holt ihn der Beelzebub. Was märchenhaft moralinsauer daherkommen könnte, wurde zum stupenden kleinen Welttheater von heute.
Zwar blieb die Schwarz-Weiß-Filmfahrt durch die Leopold-Ludwigstraße im Theaterrund verzichtbar und Norbert Grafs Tanzeinlagen blieben ebenfalls Beiwerk. Doch da stand der kommende Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski in lockerem Abstand zu seinen sieben Instrumentalsolisten. In klarer Zeichengebung, die Akzente setzte, erklangen Strawinskys kleine Genieblitze lange vor aller Moderne der 1920er Jahre, geradezu melodiöse Marschrhythmen, kontrastreiche Streitmusik, ein kleines Jubelkonzert beim Wiedergewinn der Geige. Stellvertretend für seine exzellenten Kollegen muss Violinist Davis Schultheiß genannt werden, der mal hölzern kratzig, mal dramatisch zupackend, mal süß schwelgerisch die handlungstragend wechselnde Macht der Musik erklingen ließ. Da stellte sich lange vor Brechts Theoriebau so etwas wie »epische Musik, die Distanz und Nachdenken beschwört« als Assoziation ein.
Zurecht signalisierte Jurowski schon am Ende des ersten Teils mit gezieltem Augenschließen seine Zustimmung. Ansonsten genügte durchweg ein kurzer Blick hinüber an das einzelne Mikrofon. Da stand nur eine Person: Multitalent Dagmar Manzel ließ sich aus Berlin an die Isar locken und beschwor die Charaktere, den ausmalenden Erzähler, naiv-schlichten Soldaten, lockenden Teufel, brüllenden Marktschreier, alten König, trunken lallenden Teufel, die liebevolle Prinzessin oder den final tobenden Teufel ohne jegliches Getue, nur mit der Wandelbarkeit ihrer Stimme. Binnen Momenten entspann sich für fast eine Stunde eine ganze Lebenswelt, ohne Szene oder Kostüm, nur aus dem tönend geformten und gefärbten Wort. So muss das bei den großen Mimen und den lange Zeit dominierenden Erzählern von Epen bis hin zur Jahrmarkt-Moritat gewesen sein, eine Beschwörung durch Klang und aufgeladene Betonung, und Welt und Mensch werden sichtbar. Strawinskys kleines Opus weitete sich zur Parabel, die auch auf uns zeigt. Das ließ die Zweidimensionalität des Bildschirms vergessen. Hatten sich schon in der Minipause zwischen den zwei Werkteilen Manzel und Jurowski mit einem Glas zugeprostet, blieb am Ende nur das eigene Aufstehen, das Glas zu heben und tief beeindruckt zu danken, für einen »Kunst-Brillanten«, der lange weiterstrahlt. ||
IGOR STRAWINSKY: DIE GESCHICHTE VOM SOLDATEN
Stream bis 17. März
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