Ein Streifzug durch München: Wie sich Kommunikation und Wahrnehmung im Stadtraum verändert haben.
München: Seltsame Botschaften
Lähmende Angst vor dem unsichtbaren Unbekannten und folgsames Verständnis für die staatlich verordneten Zwangsmaßnahmen, das waren die Dominanten des ersten Lockdowns im Frühjahr. Den öffentlichen Stadtraum prägten eine meist große gähnende Leere und viele meist kleine handgeschriebene Zettel. Die hingen hinter geschlossenen Ladentüren und baten die wenigen Passanten, die ja Klopapier und Nudeln längst gebunkert hatten, um Onlinebestellungen – für dies und das oder auch persönlich zusammengestellte Angebote. Die Hoffnung auf baldige Besserung, Lockerung, Normalität schwang mit. Manche drückten einfach Gefühle aus. »Haltet durch! Ich hab Euch alle lieb« konnte man in rührend riesigen Lettern im Schaufenster eines Münchner Cafés lesen. Und dann auch in der sehenswerten und gleich nach wenigen Tagen zum zweiten Lockdown wieder geschlossenen Ausstellung der Pasinger Fabrik »Social Distancing & Empty Space«.
Das waren sozusagen die Vorboten. Denn jetzt wird der Flaneur, der zur Not einen triftigen Rausgehgrund vorweisen kann, geradezu erschlagen von neuem, frisch gedrucktem Papier. Die Kulturszene – im Frühjahr vergleichsweise still in der Hoffnung auf eine kurze, schnell wieder vergessene, Corona-Episode – macht jetzt outdoor auf sich aufmerksam. Weil indoor alles versperrt ist, trotz überzeugender Sicherheitskonzepte in Museen und Raum im Überfluss. Der Grund: Man muss ja im ansteckenden Bus ins virenfreie Museum fahren. Also lieber alles dichtmachen. So hat der frei zugängliche Stadtraum nicht nur eine ganz neue Bedeutung für die Menschen erhalten, die ja nirgends mehr rein dürfen. Man nimmt diese luftigen Räume auch viel intensiver, aufmerksamer als früher zur Kenntnis. Sie haben sich in rasender Geschwindigkeit verändert. Pop-up-Radwege machten sich plötzlich auf Fahrspuren breit. Im Sommer zierten in München mehr als tausend neu geschaffene und in kürzester Zeit rausgeputzte Schanigärten die sonst schnöde zugeparkten Straßenränder. Die Theresienwiese mutierte zum Palmensandstrand, der von GreenCity kurzerhand aufgeschüttet wurde. Pünktlich zum Oktoberfest-Ende war diese mediterrane Fata Morgana wieder weg, obwohl die Wiesn ja gar nicht stattfand. Ein erster Schritt zu einer, wie Planer sagen würden, »Ertüchtigung« der Stadträume zu mehr Bürgernähe? Greifbarer, benutzbarer?
Im Winter stechen nun – die Parkbucht-Gastronomie ist verwaist, die Theresienwiese wieder leer und verschneit – die kleinen kreativen Metamorphosen im Stadtbild viel deutlicher ins Auge. Künstler und Kulturinstitute nutzen zum einen die Kultur-Litfaßsäulen für ihre Angebote im Lockdown. Zum anderen kommt selbst das meist graue und uninteressante Stadtinventar – Betonpoller und -fundamente für temporäre Verkehrszeichen, Anschlusskästen – zu ungeahnten Ehren. Auf den Kästen prangt nun schön in Alurahmen verpackt Rätselhaftes, Anbiederndes, Informatives in Text- und Bildform. Das Gärtnerplatztheater-Plakat behauptet frech: »Wir sind da«. Und preist Livestreams von der »Bühne in Ihr Wohnzimmer« an. Die Staatsoper annonciert »Konzerte bequem von zu Hause«: 24 Stunden ab 4,90 Euro. Und das ja schon immer etwas behäbige Stadtmuseum teilt mit, dass es nun auch twittert: unter #mststayconnected. Die Philosophen unter uns wollen die Kammerspiele mit tiefschürfenden Fragen einfangen: »What is the City?« oder »Wo denkt München Dich (nicht) mit?« Während uns die Münchner Philharmoniker weismachen wollen: »Schokolade macht glücklich. Musik macht glücklicher.« Wer’s glaubt, kauft Konzerte-Streams ab 9,40 Euro ein, aber nur wenn er unter 30 ist. Automatisch stellt sich die zu normalen Zeiten selten gestellte Frage: Wie gelungen ist das eigentlich? Ja, man beobachtet exakter, hinterfragt intensiver, denkt mehr über diesen öffentlichen Raum nach und was in ihm drinsteckt. Etwas, das hoffentlich auch nach dem Ende dieser Virusplage weitergeht.
Aber auch die Kunst selber kommt derzeit auf der Straße direkt zu den Menschen, nicht bloß in Form von mehr oder weniger gelungenen Graffiti. Sondern mit guerillataktischer Raffinesse. Das NS-Dokuzentrum lädt mit unterschiedlichen kryptischen Plakaten, auf denen eine Zeichnung und etwa das Wort »Rechte« zu sehen ist, auf die Website eiswetter.eu ein. Unter dem Titel »Europa Eiswetter« finden sich Gedichte und Zeichnungen von Sebastian Jung, der sich darin zum Beispiel der Verwendung von Klopapier im Lockdown oder mahnenden Worten der Kanzlerin widmet.
Bemerkenswert und wahnsinnig aufwendig ist auch die Aktion des Fotokünstlers Andreas Bohnenstengel, der geichsam die halbe Stadt mit unterschiedlichen, aber immer thematisch die Umgebung, das Viertel kommentierenden Fotodrucken bepflastert hat. Seine auf Betonpoller und Litfaßsäulen geklebten »Erinnerungsmarker«, wie er die Bilder nennt, zeigen ausschließlich Menschen, meistens in großen Gruppen, in Situationen, die derzeit schmerzlich vermisst werden. Es soll uns Hoffnung machen auf eine Zeit nach Corona, in der man sich wieder ohne Angst nahekommen darf. Mit Bildern aus der Vergangenheit nimmt er, wie er sagt, die Zukunft vorweg – in einer gesetzlichen, meist auch optischen Grauzone. Begonnen hat Bohnenstengel mit seiner Dokumentation über den früheren Rossmarkt am Schlachthof. Gezeigt und dem vorbeilaufenden Publikum zum Kauf angeboten hat er die Fotokunst auf dem temporären, mit magentafarbigen Sperrholzmöbeln aufgepeppten »Zenettiplatz« schräg gegenüber vom Eingang zum neuen Volkstheater. Alles ganz legal. Jetzt finden sich die Pferdemarktbilder auch auf Pasinger Beton. Ansonsten erfreuen die urbanen Beobachter Aufnahmen von tanzenden Schäfflern, von Besuchern des Kocherlballs am Chinaturm, von einem Geisterbahn-Monster oder berittener Polizei beim Oktoberfestumzug. Kein Bild hängt irgendwie zufällig an seinem Platz. Sondern ist immer mit anderen und der Umgebung gedanklich verknüpft. Was häufig richtig witzig ist.
Auf diese Weise sensibilisiert, entdeckt man dann plötzlich überall Street Art: Sind die geradezu adrett zusammengestellten Absperrgitter, die bei Demonstrationen auf der Theresienwiese für Ordnung sorgen sollen, im jetzt unbenutzten Zustand »police art«? Etwa von Olaf Metzel organisiert, der 1987 beim Berliner Skulpturen-Boulevard solche Gitter meterhoch in den Berliner Himmel auftürmte? Natürlich nicht. Aber vielleicht sind die an Buckminster Fullers »Dome« erinnernden Kuppelgebild aus alten Fahrradfelgen beim Bahnwärter Thiel Ergebnisse ernsten Kunstwollens. Oder das gerettete Firmenschild vom abgerissenen »Dönerhaus« im Westend, das nun ganz in der Nähe über einem verlotterten Bücherschrank am Köşk hängt. Richtig speziell wird’s mit der Gitterstruktur voller leerer Spraydosen nahe der Sprayerwand an der Tumblinger Straße: Ist das nun Kunst aus Abfall oder Abfall der Kunst? Wer weiß. Sicher ist bloß, dass die fein nach Farben sortierten, vor vollen Altglascontainern abgestellten Massen an Flaschen zwar aussehen mögen wie ein artistisches Environment – das kann aber wirklich weg. ||
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