Augmented-Reality-Apps, digitale Maker-Spaces und theatrale VR-Hubs – Kulturinstitutionen tauchen mit dem Förderprogramm »dive in« tief in digitale Welten ein und transformieren sich nachhaltig.
»dive in«: Eintauchen ins Virtuelle
Bei allen Gesprächspartnerinnen ist eine große Begeisterung und Experimentierfreude zu spüren. Ihre digitalen Projektideen sollen Realität werden. Daneben aber auch ein Bewusstsein für die enorme Herausforderung, ihre Vorhaben in nicht einmal zwölf Monaten umzusetzen. Im Rahmen des Neustart-KulturHilfsprogramms hatte die Kulturstiftung des Bundes im September 2020 das Sonderhilfsprogramm »dive in. Programm für digitale Interaktionen« bereitgestellt. Damit sollen innovative digitale Austausch- und Vermittlungsformate für Kulturinstitutionen gefördert werden, die durch den Lockdown vor die Herausforderung gestellt wurden, den persönlichen Kontakt und Austausch mit ihrem Publikum weiterhin zu pflegen. Aus 564 Förderanträgen hat die vierköpfige Jury 68 Projekte ausgewählt, die im Lauf dieses Jahres umgesetzt werden sollen.
»Collaboratory« ist beispielsweise der Titel des geplanten digitalen Open Space des Lenbachhaus. Dieser »virtuelle Raum« soll über die Website als Interface und mittels modularer Strukturen erschlossen werden. Die Entwicklung dieses Angebots soll, wie der Titel nahelegt, kollaborativ erfolgen, gemeinsam mit den Besucher*innen der städtischen Galerie. Tanja Schomaker, die den Bereich Bildung und Vermittlung leitet, versteht das Projekt als »Grundlagenarbeit«. Es schließt dabei konkret an zwei Ausstellungen an: zum einen »Der Blaue Reiter: Gruppendynamik«, die am 23. März eröffnen soll, zum anderen »Kollektive der Moderne: Gruppendynamik«, deren Start für Oktober 2021 geplant ist. Befragt wird insbesondere der westlich geprägte Kanon der Kunstgeschichte. Mit einem zeitgenössischen Blick soll auf den Kolonialismus der Zeit geschaut werden, der auch die ausgestellten Künstler*innen geprägt hat. Daher ist es auch besonders wichtig, die Diversität der Stadtgesellschaft abzubilden und zur Mitwirkung einzuladen. »Somit können vielfältige Stimmen und Erzählungen, die bis jetzt keine oder nur wenig Präsenz im Museum haben, Teil des Ensembles Lenbachhaus werden« heißt es im Antragstext.
Am Museum Brandhorst wird währenddessen an der Umsetzung der »Factory 4.0« gearbeitet. »The Factory« soll der reale neue Kunstvermittlungsraum des Museums werden, das die größte Sammlung von Arbeiten Andy Warhols in Europa beherbergt. Dabei wird die Idee der Factory als interdisziplinärer Schaffensort aufgegriffen. Die digitale Erweiterung »Factory 4.0« soll ermöglichen, »dass man sich Maker-Space-artig mit ganz unterschiedlichen Techniken auseinandersetzen kann, die auch zentral für unsere Sammlung sind, z.B. Drucktechniken, aber auch Malerei, Zeichnen, digitale Angebote usw. Wir wollen auch mit VR-Brillen experimentieren«, erläutert die Projektleiterin Kirsten Storz. »Dann kam Corona, und so schön die Pläne sind, ist uns doch klar geworden, dass man nicht alleine auf die analoge Interaktion setzen darf.«
Auch das NS-Dokumentationszentrum verbindet einen realen Ort mit dem neuen digitalen Angebot. Der Erinnerungsort »Zwangsarbeitslager Neuaubing« soll als Außenstelle 2024 eröffnet werden. Bereits im Vorfeld soll die App »Departure Neuaubing: European Histories of Forced Labor« das Thema erschließen helfen. Juliane Bischoff, als Kuratorin für Digitale Vermittlung für das Projekt verantwortlich, hat wichtige Mit streiter*innen für das Projekt gewinnen können: die Fotokünstlerinnen Hadas Tapouchi und Sima Dehgani setzen sich mit Topografien und Biografien auseinander, der Künstler Franz Wanner folgt den Spuren der NS-Rüstungsgeschichte, die bis in die Gegenwart reichen. Die Comiczeichnerin Barbara Yelin illustriert das Tagebuch eines Zwangsarbeiters, das auch als Basis dient für eine Ortserkundung des Lagers mittels Augmented-Reality-App, die von dem Medienexperten Daniel Seitz und dem vielfach ausgezeichneten Gamedesigner Jörg Friedrich (»Through the Darkest of Times«) entwickelt wird. Wichtig ist für Bischoff dabei die globale Perspektive, die bis in die Gegenwart reicht: »Wir wollen die Geschichte der Zwangsarbeit aus einer spezifischen Perspektive erzählen, nämlich als europäisch vernetzte Geschichte.«
Eine Augmented-Reality-App ist auch an der Schauburg geplant. Das Projekt »digital [v]ermitteln« umfasst dabei drei Elemente: die bereits bestehende »Netzburg« mit Videoon-Demand-Angeboten und Bonusmaterial zu den Vorstellungen, eine interaktive Website, die zum schulübergreifenden Austausch der Besucher*innen einladen soll, sowie drittens die AR-App, in den Worten der Projektverantwortlichen Katharina Mayrhofer, eine »Schauburg in der Hosentasche«. »Das Projekt, das wir mit dive-in realisieren wollen, bezieht sich auf 9- bis 13-Jährige. Das ist auch die Zielgruppe, von der wir durch Statistiken und eigene Beobachtungen wissen, dass viele schon ein eigenes Smartphone besitzen. Wie ihr digitales Verhalten dann konkret aussieht, welche Apps genutzt werden, welche Games gespielt werden, darüber wollen wir Genaueres erfahren. Dazu arbeiten wir mit je einer Klasse aus acht Partnerschulen.« Die digitalen Angebote sind dabei angeschlossen an aktuelle Inszenierungen oder den »Kinderkrimi«, der virtuell hinter die Kulissen der Schauburg führt, und sollen das analoge Theatererlebnis ergänzen.
Am Staatstheater Augsburg werden digitale Theaterangebote schon länger umgesetzt. Inzwischen sind sechs Inszenierungen als 360-Grad-VR-Angebote per Video-on Demand abrufbar. Bei Bedarf können die VR-Brillen vom Theater ausgeliehen werden. Der Lieferdienst funktioniert inzwischen bundesweit. Seit Beginn der Spielzeit ist Tina Lorenz am Staatstheater als Projektleiterin für digitale Projekte verantwortlich und daher auch für das Vorhaben »VR-Hub« zuständig, dessen Titel sich aber, so betont sie, sicherlich noch ändern wird. Mit ihm will das Staatstheater eine eigene Plattform entwickeln, die auf spezielle Theatererfordernisse im virtuellen Raum zugeschnitten ist. Zwar gibt es bereits Theaterexperimente über die Social-VR-Plattformen VR Chat oder Mozilla Hubs, doch dort können theaterspezifische Anforderungen, so Lorenz, nur bedingt umgesetzt werden. Vor allem geht es ihr darum, die Erfahrung von Kopräsenz wie auch typische Mechanismen des »Theaterzaubers« ins Digitale zu übersetzen. Auf keinen Fall will sie aber einen Theaterraum nachbauen, »so wie wir ihn kennen, mit einer Trennung von Zuschauer- und Performer*innenraum«. Die Frage sei vielmehr, wie das Gefühl von immersiven Theatererlebnissen entstehen kann ohne eine Nachahmung konventioneller Architektur.
Alle dive-in Projekte verbindet der Wunsch, eng an das Publikum heranzurücken, es besser verstehen und kennenlernen zu wollen – die Nachbar*innen des Neubaugebiets in Freiham, die diversen Minoritäten der Stadtgesellschaft, die Jungen und die Alten. Aber auch die weit Entfernten, die sich nun digital dazugesellen können. »Augenhöhe«, »Austausch« (von Wissen und Erfahrungen) und »Teilhabe« sind Begriffe, die oft fallen. Durch die digitalen Transformationsprozesse entsteht eine neue Form von Nähe und Verbindung. Wo die Pandemie auf Sicherheit und Abstandsregeln beharrt, befürwortet die Kulturstiftung des Bundes in ihren Fördergrundsätzen explizit »Open-Access-, Open-Content- und Open-Source-Ansätze«, also einen uneingeschränkten, geradezu »viralen« Austausch. Bei so viel digitaler und virtueller Offenheit verlieren dann auch pandemiebedingte Vereinzelungstendenzen ihre Wirkungsmacht und neue Begegnungsformate werden möglich. ||
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