Das »Apartment der Kunst« bietet ein außergewöhnliches Kunsterlebnis in Zeiten des Lockdown.
»Apartment der Kunst«: Die nicht verschlossene Tür
Die Forderungen der Museumsleute nach Öffnung der Ausstellungshäuser werden immer lauter, da sie wissen, dass es eine Sehnsucht nach Kunst gibt, die gestillt sein will. Gerade jetzt, wo Arbeit und Zuhause verschmelzen und es außer dem Supermarkt keinen zugänglichen Ort mehr außerhalb gibt. Doch Not macht erfinderisch, und so gibt es seit Januar einen »dritten Ort«, der Zuflucht, Kunstgalerie und Wohlfühloase in einem ist und der ein bislang ungekanntes Kunsterlebnis bereithält. Eines, das einem im »normalen« Leben wohl kaum begegnet.
Das »Apartment der Kunst« ist eine kleine ebenerdige Wohnung in einem Hinterhof in der Schönfeldstraße nahe dem Haus der Kunst. Sein Gründer, der Künstler Lars Koepsel, bespielt den freien und unabhängigen Ausstellungsort seit 2013 normalerweise von April bis Oktober mit Ausstellungen, etwa mit einem Austauschprogramm für taiwanesische Künstler*innen, und nutzt ihn über die Wintermonate als Atelier. Die coronabedingten Einschränkungen als Künstler wie als Ausstellungsmacher haben ihn auf die Idee gebracht, eine Ausstellung mit eigenen Werken zu installieren und für einzelne Besucher allein oder mit einer Begleitung nach persönlicher Anmeldung zugänglich zu machen. Für jeden Gast werden die Räume frisch gelüftet, gesäubert und desinfiziert. Zwei Tage vor dem gebuchten Termin erhält man eine E-Mail: »Ich werde 10 Minuten vor Eurer Ankunft um 17.15 Uhr das Apartment verlassen und ca. 10 Minuten, nachdem Ihr um 19.15 Uhr gegangen seid, wiederkommen, sodass wir uns nicht begegnen werden.«
Zwei Stunden? Für 30 Quadratmeter mit ein bisschen Kunst? Allein? Doch die unbehaglichen Gefühle, mit denen man durch die unverschlossene Tür in eine irritierende Privatheit tritt, lassen rasch nach. Umfangen von einer einladenden und wohlig-warmen Atmosphäre tastet man sich Schritt für Schritt vor, erkundet vorsichtig die Räume und nähert sich den ausgestellten Werken, einer speziellen Form von Schrift-Kunst. Mit Schriftbändern bezeichnete illuminierte Globen, grafisch-abstrakte Papierarbeiten und ein großflächig den Raum umfangender, in sich verschränkter ornamentaler Schriftzug über drei Wände: »Shelter« – Zuflucht, Schutz –, Titel der Ausstellung oder der Situation?
Irgendwann ist man bereit, es sich in den Sesseln bequem zu machen und die auf dem Tisch stehende Weinflasche zu köpfen. Spätestens jetzt stellt sich eine überraschende Ruhe ein und die Bereitschaft, sich einzulassen auf eine Gesamtinstallation, die nicht nur die Kunst umfasst, sondern alles: das Licht, die Atmosphäre, die vielen scheinbar beiläufig verstreuten Utensilien im dicht gefüllten Büroraum, die zahlreichen Bücher und Kataloge, die zum Blättern und Lesen einladen, bis hin zu den CDs in der Küche, die man sich auch irgendwann traut einzulegen. Und man spürt, dass das alles mehr ist als nur eine Art Hintergrundrauschen für die Werke, sondern einen auf die verschiedenen Ebenen geleitet, die den Arbeitsansatz des Künstlers reflektieren: die sinnliche, die intellektuelle, die meditative.
Die Inszenierung ist darauf angelegt, dass man sich den Arbeiten erst mal auf der sinnlich-ästhetischen Ebene nähert. Im gedämpften Licht der indirekten Beleuchtung strahlen die illuminierten Globen hervor. Sie sind von einer transparenten Netzstruktur aus übereinander gelegten Schriften überzogen, die den farbigen Untergrund hervorscheinen lässt. Im Halbdunkel an den Wänden hängen gerahmte, mit ebensolchen gestischen Texturen versehene Kompositionen und ornamental angelegte Formationen, die asiatisch anmuten. Tatsächlich befasst sich Lars Koepsel seit drei Jahrzehnten mit der Kunst der Kalligrafie, nicht nur der chinesischen, auch der arabischen. Schriftkunst, die eine Verbindung herstellt vom Inhaltlichen zum Ornamentalen. Ähnlich mittelalterlichen Mönchen schreibt er in einem langwierigen, Stunden, Wochen und Monate andauernden Prozess Texte und ganze Bücher ab, aber nicht, um sie zu kopieren, sondern indem er die Zeilen immer und immer wieder in alle Richtungen überschreibt und zu abstrakt erscheinenden Kompositionen transformiert.
Ein meditatives Tun, das der Schnelllebigkeit der Zeit mit ihren technischen Möglichkeiten diametral entgegengesetzt ist und gerade jetzt in Coronazeiten zum Abbild der Verlangsamung wird. Dem zugrunde liegen philosophische, literarische wie politische Schriften von weitreichender Bedeutung, ob Dantes »Göttliche Komödie«, Schriften von Lessing und Montaigne bis hin zu Erich Fromm oder Berichten des Club of Rome. »Wir Flüchtlinge« von Hannah Ahrendt überzieht eine der Weltkugeln, der »Brief über die Toleranz« von John Locke bedeckt ein Puzzle. Fahnen aller Herren Länder scheinen an den Seiten hervor. Ein Puzzlestein ist mit Blattgold hervorgehoben. Die Automatisierung des Schreibens drängt das Inhaltliche zurück, aus Text wird Bild, durch die ewige Wiederholung wird Neues geschaffen, das, ganz im Sinn kalligrafischer Zeichen, wiederum auf ein übergeordnetes Ganzes verweist, in dem Zeit und Rhythmus verschmelzen. Man kann sich unendlich in die Details vertiefen, intensiv die Texte lesen oder sich, eingelullt von Dämmerlicht, italienischer Barockmusik und Wein, inmitten der Kunst im meditativen Sinnieren verlieren. Und ehe man sich versieht, sind zwei Stunden um. Und man verlässt den Ort mit der Erkenntnis, dass Kunstgenuss möglich ist – wenn die Bedingungen stimmen. ||
APARTMENT DER KUNST
Schönfeldstr. 19 Rgb.
Lars Koepsel: SHELTER | bis 21. März | Besuch nur nach Vereinbarung unter apartmentderkunst@gmail.com
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