Nicolas Stemann schreibt in »Corona Passion« ein Tagebuch über das Leben ohne Theater.
»Corona Passion«: Chronik der Emotionen
Auf einmal war er da, im März diesen Jahres: der Ausnahmezustand. Oder, wie man mancherorts sagte: der Katastrophenfall. Die Theater wurden geschlossen. Mitten in der Spielzeit. Ohne konkrete Aussicht auf Wiederöffnung. »Das Ende der Gewohnheiten«, wie Sibylle Berg in ihrem Vorwort zu Nicolas Stemanns Buch »Corona Passion« schreibt. Der Regisseur und Mit-Intendant des Zürcher Schauspielhauses hat während des Lockdowns ein Krisentagebuch in der »Neuen Zürcher Zeitung« geschrieben, das nun zusammen mit Liedtexten in Buchform erschienen ist. Eine Chronik der Ereignisse und Emotionen, die ihre Zeitgebundenheit nicht verbirgt und gerade dadurch zur Dokumentation dieser Monate wird. Das Buch offenbart die Ahnungslosigkeit des Frühjahres und die vermeintliche Entspannung im Sommer. Die erneute Verschärfung der Lage im Winter dagegen ahnt es noch nicht. Und doch: »Die Zeit der Witze ist vorbei«, so Stemann im Vorwort. »Dass es nicht mehr braucht als eine (vergleichsweise bei uns bislang eher glimpflich verlaufende) Pandemie, damit Gaga-Hippies Seite an Seite mit Reichsfahnen schwenkenden Nazis marschieren, weißgewaschen von ›ganz normalen› Bürgern – ja, auch das hätte man ahnen können.«
Der erste Text stammt vom 24. März 2020. »Das Homeoffice ist noch in der Erprobungsphase«, Stemann scherzt über paralleles Kinder-Wickeln in Videokonferenzen und dekorativ drapierte Bücherstapel im Hintergrund. Die Theater beginnen hektisch zu streamen, um sich im gewohnten Produktionsrhythmus zu halten. Die Ahnung, dass das »heftig« wird, heftiger als ein paar Wochen ohne Livetheater, findet sich schon hier. In der folgenden Zeit kommt die Idee der Krise als Chance auf, den »zu Überhitzung und Überproduktion neigenden Stadttheaterbetrieb entschleunigen zu können« und »dem Trott des Hamsterrades etwas entgegenzusetzen«. Gleichzeitig beginnt Stemann aber schon da, ohne Kunst durchzudrehen. »Hamlet-Monologe in der Küche? Klassiker-Rezitationen in Form von Onlinemeetings?« Wie ein kontaktloses Theater aussehen kann, muss erst erprobt werden. Und ob das risikoarme Theater ein spannungsarmes sein muss, auch das ist noch zu klären.
Im April kippt dann die Stimmung, die Zeit des »Lustgruselns« wird abgelöst durch eine Onlinemüdigkeit, die Sehnsucht nach einem »Analogisierungsschub«. Und eine große Ernüchterung: »Menschen nerven – nur sind wir dummerweise selbst welche, was einen gewissen Interessenkonflikt schafft.« Überhaupt der Mensch, der einen schon das Gruseln lehren kann: »Mit welcher Vehemenz es Menschen schaffen, Meinungen zu haben, ist etwas, das mich schon immer tendenziell eingeschüchtert hat.« Und noch etwas wird in dieser Phase, in der das Selber-Denken von vielen als anstrengend empfunden wird und Ambivalenzen vielerorts unerwünscht sind, deutlicher als je zuvor: Diese Gesellschaft, diese Menschheit braucht Theater, braucht die künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt um sie herum.
Stemanns Passionsgeschichte endet mit einer Auferstehung im Mai, als in Zürich wieder fast alles beim Alten zu sein scheint: Die Kinder sind in der Schule, die Theater öffnen wieder. Und die Verschwörungsgläubigen fragen: »Wozu war ich denn die ganze Zeit im Bunker, wenn dann doch keine Apokalypse stattfindet?« Das Buch erscheint, als diese Frage von der zweiten Welle eingeholt wurde. In der Schweiz und in Europa sind die Theater längst wieder geschlossen, die Zahlen hoch wie nie. ||
NICOLAS STEMANN: CORONA PASSION.TEXTE UND LIEDER AUS DEM LOCKDOWN
Mit einem Vorwort von Sibylle Berg | Alexander Verlag, 2020
104 Seiten, 12 Abb. | 15 Euro
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