Der neue Roman der Münchner Autorin und Kulturhistorikerin Lea Singer spielt 1531 in Venedig, aber es geht um aktuelle Themen.

»La Fenice«: Aufstehen und weitergehen

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Lea Singer | © Jacques Schumacher

La Fenice heißt das berühmte Opernhaus in Venedig. La Fenice bedeutet: der Phönix. Dieser mythische Vogel stammt aus dem altägyptischen Sonnenkult, der Legende nach verbrennt er sich am Ende eines jahrhundertelangen Lebens und steht nur drei Tage später aus der Asche wieder auf. Die venezianische Oper wurde so genannt, weil man sie nach einem Brand 1792 wiederaufgebaut hatte. Ein zweites Mal verdiente sie ihren Namen, als sie 1996 erneut abbrannte und danach originalgetreu rekonstruiert wurde. »La Fenice« heißt auch der neue Roman von Lea Singer – hier aber handelt sich um eine wahre Geschichte aus dem 16. Jahrhundert, um eine junge Kurtisane in Venedig, die nach der körperlichen, seelischen, gesellschaftlichen und beruflichen Vernichtung wiederaufersteht.

Frau Singer, Sie haben auf der Website Ihres Verlags umfangreiche Anmerkungen zu Ihrem Roman veröffentlicht, mit Quellenangaben und Informationen zu den Figuren, die alle historisch nachweisbar sind.
Ich bin meinem Verlag dankbar, dass er mir das ermöglicht hat, so etwas gab es meines Wissens bisher nicht. Es macht mir Freude, Leser mit auf meinen Weg durch die historischen Tatsachen zu nehmen. Den Begriff »historischer Roman« halte ich für heikel. Das »Wanderhuren«-Genre würde ich als historistisch bezeichnen, es arbeitet wie der Historismus in der Architektur mit Versatzstücken. Dort wird versucht, mit altertümlichen Redewendungen historische Verhältnisse zu suggerieren. Romane, die vor historischem Hintergrund zeitgemäß erzählt sind, wollen etwas anderes, das lässt sich durch Thomas Manns »Josephs«-Tetralogie genauso lernen, wie durch Manzonis »Promessi Sposi«. Es geht darum, die Glaubwürdigkeit des Geschehenen zu nutzen, aber eine Geschichte zu transportieren, die innere Aktualität besitzt. Ich stelle präzise den Raum auf, in dem alle Details stimmen, darin bewegen sich die Figuren und darin können sich auch die Leser bewegen. In diesem Fall im Venedig des frühen 16. Jahrhunderts.

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Angela del Moro, genannt La Zaffetta, gemalt von Tizian als »Venus von Urbino«

Die Zaffetta war ein einfaches Mädchen, den Aufstieg zur Luxusprostituierten hat sie mit Hilfe ihres Mentors Pietro Aretino geschafft. Der Dichter war berühmt-berüchtigt als Klatschreporter mit intimen Kenntnissen aus dem Vatikan und den Fürstenhöfen. Um Veröffentlichungen zu verhindern, hofierten ihn die Mächtigen.
Als Dichter bekämpfte Aretino den geschraubten Stil vieler Kollegen und plädierte dafür, verstehbar zu schreiben, so wie man spricht. Die Zaffetta war eine Frau aus dem Volk, der Dialekt in Venedig war derb, sinnlich, drastisch, farbig und vulgär, viel moderner als die Hochsprache. Deshalb war ich meinen Protagonisten auch eine moderne Sprache schuldig. In einen deutschen Dialekt kann man das Venezianische nicht übertragen. Allerdings habe ich darauf geachtet, dass die Bilder stimmen, die Vergleiche. Im Venedig um 1530 kann nichts kaffeebraun sein oder tomatenrot, es gab weder Kaffee noch Tomaten.

Wie sind Sie auf den Fall der Zaffetta gekommen?
Schon vor 20 Jahren, als ich Veniers »Trentuno« las. Aber bei mir steht nie der Fall im Vordergrund, sondern ein Thema, das mich bedrängt. Hier war es das Thema der Gewalt gegen Frauen und des Internet-Mobbings. Die Lust, Menschen öffentlich zu demütigen, sie damit in die Verzweiflung, oft in den Suizid zu treiben, gab es um 1530 und gibt es heute. Demütigungen sind ein komplexer Vorgang. Es geht nicht um Scham, es geht um Beschämung, um Erniedrigung. Ziel ist, die Selbstachtung eines Menschen zu zerstören, ihn zu entwerten. Längst ist Demütigung im Internet zu einem Sport geworden, Hunderttausende gehen auf die Jagd nach Schwächen und Geheimnissen anderer und machen sie zu wehrlosen Opfern. Die meisten kommen aus der Opferrolle nicht mehr heraus.

In Venedig gab es die »bocca dei leoni«, den Briefkasten für Denunziationen. Man konnte jeden anschwärzen, ohne Beweise, die Absendernamen blieben geheim. Die Zaffetta wurde öffentlich von einem bekannten Adligen misshandelt und verleumdet. Woher nahm sie die Kraft, sich aus der Opferrolle zu befreien und diese Vernichtungskampagne zu überstehen?
Das ist mein zweites Thema: Ich wollte einen Ausweg zeigen, und der liegt in der Resilienz. Man kann diese innere Widerstandskraft, die Fähigkeit, aufzustehen und weiterzugehen, theoretisch erörtern, doch die Erfahrung lässt sich nur über eine Geschichte vermitteln. Das beschäftigt mich seit 1999, als ich »Der Palast des Regenbogens« las, Erinnerungen des früheren Leibarztes des Dalai Lama, der nach dessen Flucht von den Chinesen verhaftet wurde und dann ein Leben führte zwischen Feldarbeit, Folter und Umerziehung. Doch er behandelte sogar seine Folterknechte. Auch Nelson Mandela konnte mit seiner 27-jährigen Haft konstruktiv umgehen. Heute berichten Frauen im Rahmen der Me-too-Debatte, welchen Preis ein Nein hatte, oft den Verlust von Karrierechancen. Aber wir erfahren wenig über die Folgen der Gewalt, mit der ein Nein im häuslichen Leben geahndet wird. Jedes Jahr werden in Deutschland 130 Frauen von Männern umgebracht, in unserem Rechtsstaat. Auch Venedig war ein Rechtsstaat. Mich interessierte der Handlungsraum für solche Racheaktionen.

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Prostituierte galten nicht als ehrbare Frauen und konnten deshalb in Venedig nicht gegen eine Vergewaltigung klagen. Sie betonen vor allem die emanzipierte Haltung der Protagonistin: Sie will finanziell unabhängig sein und ihre Würde bewahren.
Die Zaffetta sagt sich: Ich bin das Instrument, auf dem das Leben spielt. Sie ist nicht zynisch geworden, so wenig wie Mandela oder der Arzt des Dalai Lama. Es gab im Venedig des 16. Jahrhunderts zwei Arten von Zynismus, und die gibt es nach wie vor. Auf der einen Seite den Zynismus der Mächtigen: Für mich gelten die Gesetze nicht. So denkt Donald Trump. Auf der anderen den der Ohnmächtigen: Ich bin so abgehängt, dass ich mich nicht mehr um Regeln kümmere. Das kennen wir heute auch. Mir geht es bei historischen Stoffen immer um die menschliche Dimension. Wie viel Gegenwärtiges die Geschichte der Zaffetta enthält, hat mich selbst überrascht und erschreckt. Mir wurde bewusst, wie stark wir an Klischees kleben und so das Wesentliche übersehen, zum Beispiel am Klischee vom Venedig der Renaissance. Die Zaffetta führte mich in die Tiefendimension der Stadt, zu ihren Rissen und Abgründen. Mein Vater hat mir beigebracht, woran man ein gefälschtes antikes Möbel erkennt: daran, dass die Rückseite schön ist. Das rundum schöne Venedig ist eine Illusion. Vincent Klink hat mir, nachdem er die »Fenice« gelesen hat, geschrieben: »Illusionslosigkeit ist der erste Schritt zum Glück.« ||

LEA SINGER: LA FENICE
Kampa Verlag, 2020
304 Seiten | 23 Euro

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