Good News für die Münchner Kultur: Im Herbst 2021 hebt das neu errichtete Volkstheater im Schlachthofgelände zum ersten Mal seine Vorhänge
Volkstheater: Außen Schlachthof, innen Goethe
Mit seinen drei Spielstätten für 600, 250 und 100 Zuschauer wartet das neue Volkstheater mit so mancher Überraschung auf. Die eigentliche Sensation noch vor Beginn der Spielzeit im Herbst 2021 ist jedoch: Der 135-Millionen– Euro-Neubau liegt voll im Termin- und Kostenrahmen und wird am 1.4. vom Generalunternehmer nach nur drei Jahren Planung und Bauzeit schlüsselfertig an den Bauherrn übergeben.
Schlüssel zum Erfolg: disziplinierte Bauherren
Weshalb konnten beim Volkstheater sowohl Kosten als auch Fertigstellungstermine präzise eingehalten werden? »Ganz einfach gesagt, das liegt an der Disziplin der Landeshauptstadt als Bauherr und daran, dass der Bauherr seinen Nutzer, also das Volkstheater, ebenfalls zur Disziplin verpflichtet hat. Das heißt konkret: Ab dem Zeitpunkt der Annahme unseres Angebots gibt es keine Änderungen mehr seitens des Bauherrn, keine Einspruchsmöglichkeiten gegen die Architektur und keine zeit- und nervenraubenden schrittweisen Einzelfreigaben durch zig Gremien. Es wird einfach so gebaut, wie es im Angebot steht«, erklärt Wolfgang Müller, Geschäftsführer der Georg Reisch GmbH, aus dem schwäbischen Bad Saulgau, die als Generalübernehmer sämtliche Risiken für die Kosten und Termine trägt. Voraussetzung war eine umfassende Leistungsbeschreibung, die bis ins Detail auflistet, was das neue Haus können muss. Zwei Jahre haben sich die Landeshauptstadt und das Volkstheater Zeit gelassen, um die insgesamt 680 Seiten zusammenzustellen.
Umdenken spart Geld: erst die Qualität, dann der Preis
Bei Ausschreibungen ist die öffentliche Hand üblicherweise verpflichtet, dem billigsten Bieter den Auftrag zu erteilen. Hier war das nicht der Fall. Der Auftrag wurde als konkurrierendes Wettbewerbsverfahren ausgeschrieben, wobei die städtebauliche Einbindung und architektonische Qualität mit 27 Prozentpunkten von der Bewertungskommission gewichtet wurden, funktionale Abläufe und die bautechnische Qualität mit 23 Prozent und der Preis schließlich mit 50 Prozent. Aus der europaweiten Ausschreibung ging in der Endausscheidung von fünf Konsortien schließlich die FirmaReisch als Generalübernehmer mit den Architekten LRO und einem ganzen Stab an Fachingenieuren als Sieger hervor. »Alle Beteiligten des Konsortiums müssen dabei gewaltig in Vorleistung gehen. Statik, Bauphysik, Brandschutz, Bühnentechnik – zwölf Fachingenieure waren involviert, um eine präzise Kalkulation abzugeben«, so Wolfgang Müller. »Die Aufwandsentschädigung für das Angebot deckt nur einen Teil unserer Kosten. Nur wenn wir jedes zweite bis dritte Projekt dieser Art auch realisieren, können wir gewinnbringend wirtschaften.«
Bei der Projektbearbeitung kommt diese Vorleistung allen zugute. Im Dezember 2017 wurde der Bauvertrag unterschrieben. In nur vier Wochen stand der Bauantrag der Architekten, lediglich drei Wochen dauerte es, bis der Bau mit 26.000 Quadratmetern Nutzfläche von der Landeshauptstadt genehmigt war. Der Schriftzug »Volkstheater« leuchtet in der Typografie der neuen Sachlichkeit auf knallrotem Quadrat gleich zweimal, um die Besucher wie ein Magnet anzuziehen: Von dem eigens für des Signet errichteten Turm in der Flucht der Tumblingerstraße sowie auf der geschlossenen Ostfassade, wo die Schmellerstraße auf den Neubau trifft.
Ein Haus für die Zukunft
»Natürlich ist das Theater eine hochgerüstete Fabrik. Wir wollten aber kein technisches Haus, sondern ein stabiles Haus«, erklärt Arno Lederer vom Stuttgarter Architekturbüro Lederer Ragnarsdóttir Oei (LRO) bei unserer Baustellenbegehung Anfang Dezember. Die gigantische Maschinerie der Kreuzbühne kann es mit den größten Bühnenhäusern der Welt aufnehmen: ein Kleeblatt aus vier bis zu 30 Meter hohen Räumen für Bühne, Hinterbühne, Seitenbühne und Aufbauraum, mit meterhohen Stahltoren, deren Boden sich satte zehn Meter tief absenken lässt: Fabrik, Lokschuppen mit Drehscheibe und Kathedrale der Bühnenkunst in einem. Selbst die Werkstätten der Schreinerei und Schlosserei im Erdgeschoss sind noch 10 Meter hohe Hallen. Ein Highlight des großen Saals ist die tiefe Bühne vor dem Vorhang, die sich über die gesamte Breite zu einem Orchestergraben für ein komplettes Orchester absenken lässt. Das neue Volkstheater ist nicht nur Schauspielhaus, sondern könnte auch Oper sein.
Für den Architekten Lederer sind diese Dimensionen Routine. Und dennoch ist ihm die Begeisterung für die Qualität und den reibungslosen Bauablauf seines jüngsten Werks anzumerken. Die üblichen Verzögerungen, zähen Abstimmungsprozesse und Kostenexplosionen öffentlicher Bauten kennt er zur Genüge. In Frankfurt hat sein Büro mit dem Stadtmuseum das Herz des Römers neu gestaltet, erst im November wurde der Erweiterungsbau der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart eröffnet. Auch mit München ist der Schwabe bestens vertraut: Im Arnulfpark haben LRO 2016 den Büroriegel aus schwarzem Ziegel mit fünf flachen Torbögen gebaut, in dem Google inzwischen sein globales Sicherheitszentrum eingerichtet hat.
»Früher hätte ich so etwas nie gemacht«
Für viele Architekten gelten Generalübernehmer noch heute als Feindbild, als Gegner, die an allen Ecken und Enden auf Kosten der Qualität Geld sparen möchten. Auch Arno Lederer war früher skeptisch. »Ich würde nie an so einem Verfahren teilnehmen, wenn das einzige Entscheidungskriterium der Preis wäre«, erklärt er. »Wir haben mit der Georg Reisch GmbH schon viele Projekte gebaut und schätzen uns gegenseitig. In dieser Konstellation haben wir mit fairen Partnern zu tun und wissen, dass das Budget realistisch ist. Wir behalten auch bei laufender Baustelle noch gestalterische Freiheiten und können innerhalb des Kostenrahmens das Geld dort verbauen, wo es architektonisch den größten Mehrwert bringt.«
Unten Stein, oben Wolke
Zum Beispiel bei der Hülle des fast 50 Meter hohen Bühnenturms: Den wollten die Architekten erst mit alten Leitplanken bekleiden, die nachts hinterleuchtet werden. Schließlich ist es jedoch eine luftige weiße Membran geworden, die wie eine Wolke über dem Gebäude schwebt. »Der Backstein als typisches Material des Schlachthofgeländes war von Anfang für die Fassaden gesetzt. Er geht bis zur Traufhöhe der Bestandsgebäude, um eine Einheit mit ihnen zu bilden. Nach oben wird es dann immer leichter: Weißer Putz für die Bürofassaden, darüber veredelt ein gezackter Kranz aus Streckmetall die fensterlosen Technikgeschosse. Den Abschluss bildet die leichte Textilhülle um den zurückgesetzten Bühnenturm, der nur aus gewisser Entfernung über der Traufe hervorragt.«
Stallgeruch im einstigen Viehhof
Die Regie der Architektur selbst kommt auf leisen Sohlen daher – niederschwellig schräg, wie es dem Volkstheater gebührt. Wer die alten Stallungen des Viehhofs nie gesehen hat, könnte meinen, der Neubau sei schon immer hier gestanden. Zumindest trifft das auf die Häuserzeile entlang der Zenettistraße zu. Die steht mit ihrer Backsteinfassade unter Denkmalschutz und musste erhalten bleiben. Hier werden die Theaterpädagogik untergebracht, 27 Wohnungen für Theaterleute sowie Büros. Im Inneren strahlen die alten Parkettböden wieder das gediegene Flair der 1920er Jahre aus. Sie wurden vor den Umbaumaßnahmen herausgenommen, aufbereitet und jetzt wieder neu verlegt.
Gewöhnungsbedürftig ist dagegen die zum Innenhof mit Eingang und Biergarten orientierte weiß geschlämmte Fassade, die wie eine Brandmauer lediglich konserviert, aber nicht weiter gestaltet ist. »Ja, das bleibt so«, verkündet Arno Lederer, schließlich soll ja der raue Charakter des ehemaligen Viehhofs spürbar bleiben. »Die Ringe, an denen die Ochsen einst angebunden waren, stecken zum Teil noch in den konservierten Mauern, die Futtertröge sind leider kurz vor Baubeginn verschwunden.« Wer die Architektur von Lederer Ragnarsdóttir Oei kennt, wird auch beim Volkstheater auf vertraute Motive stoßen: Backsteinbögen in unterschiedlichen Größen, elegant geschwungene Rundungen, die den Besucherstrom lenken oder als Raumskulpturen banale Lüftungsschächte verbergen.
Goethe im Foyer
Und wer das Foyer betritt, erlebt schon hier sein farbenfrohes Wunder: Anstelle neutral weißer Oberflächen schlägt einem eine knallbunte Farbwelt entgegen. »Das haben wir einfach so gemacht, ohne es groß in den Baubesprechungen zu diskutieren«, erklärt Lederer ganz nüchtern-spitzbübisch. Er hat aber sogleich eine Erklärung parat: »Es sind die Le Corbusier-Farben. Viele meinen ja, die Moderne sei ganz weiß gewesen, dabei hat sie viel mit intensiven Farben gearbeitet.« Diesen verlorenen Sinn für Farbigkeit will er wieder ins Bewusstsein bringen. Um Christian Stückl davon zu überzeugen, ist er mit ihm nach Weimar ins Goethehaus gefahren. »Wenn man dort die Treppe hochkommt, beginnt es mit Gelb, das ist die Farbe, die dem Licht am nächsten kommt. Links folgt dann das rote Zimmer, und hinten das Juno-Zimmer ist ganz blau.« Im Foyer des Volkstheaters ist die Dramaturgie umgedreht: Vom kühlen Dunkelblau und Grün des niedrigen Eingangsbaus wird man von strahlendem Gelb an die Längswand der zweigeschossigen Galerie gezogen, um sich Orientierung zu verschaffen. Eine geschwungene Treppe vor blassblauer Wand unter dem ovalen Oberlicht provoziert ein fast majestätisches Schreiten hinauf zur Galerie. Bühne frei für die Zuschauer!
Und danach ins Wirtshaus
Die Zeit von der Fertigstellung im April bis Spielbeginn im Oktober werden Regisseure, Ensemble und die Bühnentechniker bis zur letzten Sekunde nutzen. Ihr neuer Arbeitsplatz ist in keiner Weise mit der bisherigen Spielstätte in der Brienner Straße zu vergleichen. Die Bühnentechniker müssen sich mit der Maschinerie erst vertraut machen, um sie auch perfekt zu beherrschen und ihr ganzes Potenzial ausspielen zu können. Das Team von zwölf Technikern reicht längst nicht mehr aus, auch andere Abteilungen werden personell aufgestockt. Bei so viel Umtriebigkeit fragen sich die Nachbarn, ob das neue Volkstheater nicht zur Lärmquelle im Sprengelwird. Ein Schlachthofgelände hat von Haus aus seine ganz eigenen animalisch produzierten Gerüche und Geräusche, das soll nicht noch durch den Verkehr verstärkt werden.
»Ganz zu Beginn hatten wir sogar überlegt, den Eingang auf die entgegengesetzte Seite zu legen, zum Stadtkanal hin und zu der neuen Grünverbindung. Das hätte aber bedeutet, dass wir die Anlieferung an die Zenettistraße legen müssen, und das wollten wir den Anwohnern nicht zumuten«, verteidigt Arno Lederer die jetzige Lösung. »Aus Lärmschutzgründen ist die Anlieferung mit einer Schallschutzwand aus Backstein nach Süden abgeschirmt«, ergänzt Wolfgang Müller. »Außerdem haben wir bestimmte Zeitfenster eingerichtet, an wie vielen Tagen zu welchen Uhrzeiten die Lkws aufs Grundstück fahren dürfen.« Die 60 Stellplätze in der Tiefgarage sind für Mitarbeiter und Rollstuhlfahrer reserviert. »Die Zuschauer sollen schließlich nach der Aufführung ins Wirtshaus gehen, dann ist es besser, wenn sie öffentlich nach Hause fahren.« ||
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