Der Münchner Veranstalter Walter Heun hat das Förderprojekt »Stepping out« für die freie Tanzszene auf den Weg gebracht.

Stepping Out: Ein Schritt zum Neustart

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Das Förderprogramm »Stepping out« soll helfen, Tanz sichtbar zu machen – im analogen, medialen und digitalen Raum. Zu den Geförderten zählen auch die Münchnerinnen Susanne Schütte Steinig – hier ihre frühere Performance »Gegenüber« | © Sammy Hart

Was für eine außergewöhnliche Gabe hat doch der Homo sapiens in seinen Genen mitbekommen: In Bedrängnis, das Wasser schon bis zum Hals, wird der Mensch kreativ, findet völlig unerwartete Auswege aus bedrohlicher Lage. Die Bedrohung heißt in diesem Jahr Covid-19. Besonders gefährlich sind die über den Atem ausgestoßenen infektiösen Aerosole. Der tanzende und dabei unweigerlich intensiv atmende Mensch wird zum Gefährder und selbst zum Gefährdeten. Ein Lockdown, wenn auch »light«, ist zum zweiten Mal die auferlegte Maßnahme. Aber Tanz, ob als Kunst oder als unabdingbares Training, lässt sich nicht so leicht wegsperren.

Drei kämpferische Institutionen – der Dachverband Tanz Deutschland, die gemeinnützige Kulturorganisation Diehl+Ritter und Walter Heuns Münchner Joint Adventures – haben bei der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Monika Grütters angeklopft. Mit je eigenen, dabei sinnvoll aufeinander abgestimmten Plänen wurde das Trio denn auch in die Bundesförderung »Neustart Kultur« integriert. Dieses mit 20 Millionen Euro bedachte »Hilfsprogramm Tanz« ist eine Stütze für soloselbstständige Tanzschaffende, für Tanzschulen und Tanzpädagogik in kulturellen Einrichtungen, soll aber auch die Zukunft von Tanzstrukturen sichern.

Walter Heuns Projekt »NPN – Stepping out«, mit drei Millionen Euro aus diesem Fördertopf versehen, konzentriert sich auf die Erschließung von Arbeits- und Präsentationsmöglichkeiten von Tanz und Performance. Seine Weitsicht – ganz im Sinne seines 1991 ins Leben gerufenen »Nationalen Performance Netz« – zielt sogar auf »neu zu denkende performative Szeneflächen und Aktionsfelder«. Wobei man sich erinnert, dass die US-Postmoderne in ihrem Formerneuerungs-Aufbruch ab den frühen 1960er Jahren schon kühn in Telefonzellen, Bahnhöfen und auf Hochhausdächern tanzte.

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Ceren Oran, hier im Vordergrund bei ihrem Tanzmarathon »Who is Frau Troffea?« beim Festival DANCE | © Dieter Hartwig

Aber der freie Tanz hat sich natürlich seitdem vielfach verändert, jetzt nochmals angetrieben durch die Zwänge der Pandemie. Eine dafür exemplarische Produktion aus der »Stepping out«-Förderung ist das »Genesis«-Projekt des Berliner Duos Moritz Majce und Sandra Man auf einer urbanen Brache: »Wir arbeiten mit zwölf Tänzer*innen, einem programmierten Drohnenschwarm und VR-Brillen für ein eigens produziertes 360°-Video. Die Besucher*innen werden zu Co-Inhabitants«, so ihre Projektbeschreibung. Nochmals historisch betrachtet: Im Vergleich mit den USA ist der zeitgenössische Tanz in Europa ein Spätentwickler.

Hierzulande ging es damit erst in den 80er Jahren los – genau in der Zeit, in der Walter Heun veranstalterisch aktiv die sich entwickelnde Münchner freie Tanzszene in den Blick rückte: 1984 war er Mitbegründer des Choreografenkollektivs Dance Energy, 1986 und 1989 leitete er die Tanztage München. 1987 bis 1993 war er Geschäftsführer der von ihm mitbegründeten Tanztendenz München e. V., einer Choreografenvereinigung und zugleich städtisch geförderten ersten großen Proben- und Produktionsstätte für die hiesige freie Tanzszene. 1990 gründete Heun seine Tanz- und Theater-Produktionsfirma Joint Adventures und initiierte im selben Jahr, teilweise auch in CoLeitung, solche Fortsetzungsevents wie BRDance und die Tanzplattform Deutschland. Und seine Münchner Tanzwerkstatt Europa, eine Kombination aus Festival und Workshops, ist seit 1991 jeweils im Sommer Treffpunkt für Tanzschaffende und -enthusiasten aus aller Welt.

Insgesamt hat Heun in 36 Jahren noch einiges mehr angestoßen und bewirkt, immer angefeuert von seiner Begeisterung für den Tanz. In »Stepping out« gehe es vorrangig darum, die eingereichten Projekte jeweils konkret in Zusammenarbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern auf den Weg zu bringen. »Und zwar zum einen im digitalen Raum, da coronabedingt die Theater geschlossen sind. Zum andern wollen wir nichttheatrale Räume für Tanz und Performance erschließen, in Parks, Galerien, Kinos oder auch in Parkhäusern.« Katrin Schafitel zum Beispiel, hierorts bestens bekannt als persönlichkeitsstarke zeitgenössische Tänzerin, erkundet – in und außerhalb ihres großen ballonförmigen Kostümobjekts – Boden, Stufen, Bänke auf freien Plätzen. Sie lädt so Vorübergehende ein, »sich der Schönheit und Poesie des Lebendigseins durch den Tanz bewusst zu werden«.

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Walter Heun | © Regine Hendrich

Mit insgesamt vier Förderbereichen bis hin zu »Distributionswegen, Vermittlungsprogrammen, webbasierten Seminaren und ähnlichen Diskursformaten« spricht Walter Heun den Tanz auf erstaunlich breiter Basis an. Dementsprechend »überwältigend« war der Ansturm von Bewerbungen. Nur 23 Prozent konnten berücksichtigt werden. Das sind immerhin über 700 Künstler und Künstlerinnen und etwa 400 Bewerber im zuarbeitenden Bereich von Produktion bis Management und Technik. Die dreiköpfige Jury musste ganz schön rackern. Ihre Auswahl hat aber auch gezeigt, wie kreativ, wie unmittelbar am Puls der Zeit diese freie Tanzszene quer durch Deutschland sich erweist. Mit den ersten zwei Vergaberunden sind von den 3 Millionen Euro bereits 2,14 Millionen ausgegeben. Die dritte Runde folgt im Januar. Freilich, abhängig von noch zugänglichen Fördermitteln, könnte es auch noch eine vierte Runde geben. Allein an diesem kompakten Förderprogramm, aber überhaupt an Walter Heuns gesamter Karriere erkennt man: Planen, Organisieren, grenzüberschreitende Unternehmungen, das ist sein Terrain.

»Mein Deutsch- und Griechischlehrer, der eigentlich Philosoph war, hat mir strukturiertes Denken beigebracht«, so Heun. »Seine Lehre war: ›Wenn du wirklich etwas verändern willst, dann musst du an die Strukturen herangehen und nicht an die Auswirkungen.‹« Eine Lektion, die Heun bis heute beherzigt: »Mir war es wichtig, mich jetzt, in dieser prekären Situation, einzubringen, ganz unabhängig von meinen eigenen Veranstaltungen. Aber Tatsache ist, wenn diese freie Tanzszene nicht weiter existieren kann, dann trifft uns das letztlich auch.« ||

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Bewerbungen für die dritte Runde noch bis 15. Januar 2021 unter steppingout@jointadventures.net | Informationen zu den Fördermöglichkeiten

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