In »Table Top Shakespeare« erzählen Forced Entertainment alle 36 Stücke des Meisters mit Alltagsgegenständen nach.
Forced Entertainment: Gemeuchelte Klebestifte und ein Blumentopf-König
Claire Marshall hat die schönste Küche und eine der originellsten Besetzungsideen. Denn ihre Königin Elizabeth ist eine Tasse. Und bevor die mit ihren Kindern den Schauplatz verlässt, stellt Marshall die zwei Klebestifte für die Söhne und den Nagellack für die Tochter in sie hinein. Gut, ganz ohne spielerische Stereotypen kommt auch das radikalpuristische Objekttheater nicht aus, das die britische Performancetruppe Forced Entertainment für den zweiten Corona-Lockdown wiederbelebt hat. Bereits 2015 haben Marshall und ihre Kollegen Richard Lowdon, Cathy Naden, Jerry Killick, Terry O’Connor und Robin Arthur alle 36 Stücke von William Shakespeare auf einem Tisch angerichtet. Damals war es ein Bühnentisch, hinter dem ein roter Vorhang an die ehrwürdige Tradition Stratford-upon-Avons erinnerte; und beide, Tisch wie Vorhang, gingen mit »Complete Works: Table Top Shakespeare« um die Welt. In der neuen »Home-Edition« sitzen die sechs Performer jeweils alleine an ihren heimischen Holz-, Linol- oder Kunststofftischen, hinter denen Bücher- und reich bestückte Pinnwände, Geschirr oder Gemüsevorräte zu sehen sind. The times they are a-changin’. Geblieben ist der Cast. Man lernt kennen: einen schwarzen Blumentopf in der Rolle von Richard III., eine Flohpuderdose als Hamlets Stiefvater-Onkel Claudius, drei Garnrollen-Hexen, allerlei Cremetuben und mehr oder weniger leere Dosen und Flaschen in diversen Haupt- und Nebenrollen. Auf manch einem Tisch sieht es binnen kurzemb eher nach Bastelsause oder Hauswirtschaftsseminar aus denn nach Theater.
Aber Theater ist dieser bezaubernde Shakespeare’s Digest sehr wohl, der noch den ganzen Dezember auf der Website der Gruppe einsehbar bleibt. Dass er fast gänzlich ohne die zu geflügelten Worten mutierten Originalzitate auskommt, mag zwar manch einen bekümmern. Dafür sind die auf je eine Stunde verknappten Summaries in der heuer theaterlosen Vorweihnachtszeit für die ganze Familie geeignet. Denn so klar und ruhig wie Forced Entertainment das tun, bekommt man Shakespeare kaum je erzählt. Da werden selbst die Tötungsorgien Macbeths fast zärtlich beschrieben, und eine Marmeladenglas-Julia macht sich garantiert jugendfrei nackt. Für wen das jetzt fad klingt oder nach unfreiwilliger Komik schreit: Fast schon seltsamerweise ist es das beides nicht. Denn Forced Entertainment melden sich hier nach ihrem leider sagenhaft enttäuschenden »End meeting for all« als Meister des unaufgeregten Minimalismus zurück; mit diesem wunderbaren Ohrenbalsam aus britischstem Englisch und feinsten individuellen Nuancen: Marshalls dunkelsamtene Stimme intoniert ihre fein durchrhythmisierten Sätze wie Musik. Arthur spielt am stärksten mit der wörtlichen Rede und O’Connors Nachdenklichkeit wirkt beinahe meditativ. Regisseur Tim Etchells schreibt auf der Website der Truppe von der Resilienz von Theater, das weder besondere Räume noch Utensilien braucht, um stattfinden zu können. Man wird sich an diese extreme Reduktion nicht gewöhnen wollen (und hoffentlich auch nicht müssen). Sich auf ihre Wirkmacht zurückzubesinnen, kann dennoch nicht schaden. In diesem Fall legt sie die Struktur und Dynamik von Shakespeares Stücken bloß – inklusive mancher Webfehler. Und selten wird der Imaginationsmuskel derart gestretcht wie hier. Unglaublich, wie einem der Meuchelmord an zwei kindlichen Klebestiften zu Herzen geht und wie schnell man akzeptiert, dass diese Gewürzmühle Prosperos Tochter Miranda ist oder Jago und Rodrigo Zigarettenschachtel und Feuerzeug. Alles geht, wenn wir uns nur darauf verständigen. Mindestens zu zweit. ||
COMPLETE WORKS: TABLE TOP SHAKESPEARE: AT HOME
Forced Entertainment | bis 31. Dezember
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