Am 30. November erhält Dina Nayeri in München für ihr Buch »Der undankbare Flüchtling« den mit 10.000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis.

Dina Nayeri: »Wir müssen den Geist der Genfer Konvention wiederentdecken und uns an die Tragödie erinnern, aus der sie erwuchs«

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Dina Nayeri | © Anna Leader

In diesem Jahr wird der Geschwister-Scholl-Preis an eine junge Iranerin vergeben, die mit ihrem gerade erschienenen Buch den Anforderungen des Preiskomitees entspricht, »den moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.«

Die Autorin wurde während der Islamischen Revolution im Jahr 1979 in Isfahan im Iran geboren. Als die Familie dort nicht mehr sicher war, auch weil die Mutter zum Christentum konvertierte, musste sie fliehen. Nach vielen Umwegen landete die Familie in den USA. Dort machte Dina mehrere Universitätsabschlüsse und lernte so zu sprechen, dass ihr bald keiner mehr die Einwanderung anmerken konnte. Perfekte Assimilation. Der Versuch, so schnell wie möglich die Identität des Gastlandes anzunehmen, war geglückt: In kurzer Zeit wurde sie zu einer erfolgreichen, hochgebildeten Frau, und weil sie dazu selbstbewusst, intelligent und schön ist, war sie bald eine Art Vorzeigemigrantin.

Dabei wollte sie es aber nicht bewenden lassen: Sie besuchte Camps und befragte Geflohene aus Syrien, Libanon, Afghanistan und dem Irak nach persönlichen Erlebnissen, den Qualen der Flucht, dem Leben in den Camps. In ihrem Buch verknüpft sie diese Schicksale mit ihrem eigenen, wohlwissend, dass sie Glück hatte, weil sie aus sogenanntem guten Hause stammt und ihr die Welt stets offengestanden hatte. Den Bewohnern der Lager dagegen bleibt oft nichts als der Traum von einer glücklichen Zukunft. Nayeri führte auf ihren Reisen intensive Gespräche über die Träume und die Enttäuschungen der Geflüchteten und verknüpft die Geschichten mit ihren eigenen Erlebnissen, als sie, fast noch ein Kind, die Heimat verlassen musste. Das ist das Strickmuster des prämierten Textes, der nicht nur voller Empathie ist, sondern auch mit Feingefühl, Tiefgang und analytischer Klugheit erzählt.

Frau Nayeri, ich möchte zunächst auf den Buchtitel zu sprechen kommen: »Der undankbare Flüchtling«? Undankbar, wie ist das gemeint?
Der Titel ist ironisch. Er bezieht sich auf den Druck, den die Flüchtlinge empfinden, dankbar sein zu müssen. Dankbarkeit ist sicher für das Überleben und für die mentale Gesundheit notwendig. Ich zum Beispiel bin eine äußerst dankbare Person. Aber Dankbarkeit ist ein privates Gefühl, das von anderen nicht eingefordert werden kann. Ähnlich wie Liebe und Respekt wächst sie erst im Lauf der Zeit. Manchmal richtet sie sich nicht an ein individuelles Gegenüber, die private Dankbarkeit eines Flüchtlings drückt sich vielleicht nur gegenüber Gott aus, und das ist okay. Flüchtlinge aufzunehmen, ist eine humane Pflicht, man sollte dafür nicht Dankbarkeit erwarten. Man muss niemanden mit Lob überhäufen, weil er die Türen für Menschen öffnet, die in Gefahr sind, und selbst einfach Glück hatte mit dem Ort seiner Geburt.

Trump sagte voller Spott: »If you are not happy here you can leave the country.« Aber haben die meisten Flüchtlinge überhaupt die Wahl?
Das ist ein extrem beschränkter Kommentar des mächtigsten Mannes der Welt. Sagte er das speziell mit Blick auf Flüchtlinge? Nun, er ist ein so dummer Mann, es ist frustrierend ihm das ernsthaft widerlegen zu müssen. Trotzdem: Flüchtlinge sind nach Definition der Genfer Konvention Menschen, die nicht in ihr Land zurückkehren können, weil sie zeichner dieser Konvention stimmen damit einer Politik zu, die das Zurückschicken nicht erlaubt. Da Amerika einer dieser Unterzeichner war, ist der Satz »Geht zurück, wenn es euch hier nicht passt« die Aussage eines dahergelaufenen Trottels. Wenn der Präsident das sagt, ist es alarmierend.

Bei Ihrer Reise durch viele Camps in Europa haben Sie unzählige Gespräche mit Flüchtlingen geführt. Alle Erzählungen sind auf ihre Weise dramatisch oder tragisch. Ist jede Flucht besonders?
Ja, so wie jede menschliche Erfahrung. Deswegen hat das Erzählen von Geschichten diese starke Überzeugungskraft: Die Einzigartigkeit einer jeden Geschichte bewegt uns, überzeugt uns, es sind Geschichten, die tatsächlich jemandem widerfahren sind. Gerade die einzigartigen Details lösen Empathie und Resonanz in uns aus. Eine schöne Ironie: Je mehr Individuelles im Geschichtenerzählen steckt, desto universeller bewegt die Geschichte.

Fast 80 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, und es werden von Jahr zu Jahr mehr. Was kann die Politik tun? Welchen Appell richten Sie an die Politiker?
Mein Appell richtet sich an die Menschen, nicht nur Politiker, denn die denken vor allem an ihren eigenen Vorteil. Sie sollten aber wissen, dass wir sie nicht wählen, wenn ihr Programm der persönlichen Selbstdarstellung und den Interessen der Reichen und Privilegierten dient und sie sich nicht um die Hilfsbedürftigen kümmern. Viel zu lang müssen Flüchtlinge in Lagern ausharren. Die Umstände dort sind grauenvoll. Die Menschen dürfen nicht arbeiten, ihre Kinder haben keinen Zugang zu Bildung. Das muss anders werden. Und unsere Torwächter, die Asylprüfer, müssen endlich lernen, den humanitären Aspekt ihres Jobs zu begreifen, statt dafür belohnt zu werden, möglichst viele Bewerber abzulehnen. Die Flüchtlingslager in ganz Europa sind schrecklich. Oft spielen die Politiker der Aufnahmeländer auch noch Spielchen mit dem Leben der Flüchtlinge und versuchen mit komplizierten Regelungen, sie sich gegenseitig zuzuschieben. All das muss anders werden: Wir müssen den Geist der Genfer Konvention wiederentdecken und uns an die Tragödie erinnern, aus der sie erwuchs.

Häufig müssen Menschen aus ihren Ländern fliehen, weil dort ihre Lebensgrundlage zerstört wurde. Wir in den reichen Ländern haben unseren Anteil an dieser Zerstörung. Was können wir Ihrer Meinung nach tun, um diese Ungerechtigkeit zu stoppen?
Um es kurz zu machen: Wir müssen die Flüchtlinge fair verteilen, denn das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Auf lange Sicht müssen wir Politiker wählen, die sich der schon genannten Regeln annehmen. Es ist moralisch nicht mehr vertretbar, die Daten über die Klimaveränderung und die Schäden, die wir in anderen Ländern verursacht haben, zu ignorieren. Wir können nicht mehr die Augen verschließen vor den Privilegien, die wir auf Kosten anderer genießen. Wir sind verpflichtet, bestimmte Wahrheiten anzuerkennen und zu verstehen, auch, wenn sie unbequem sind und uns einiges kosten. Wir können nicht so tun, als hätten wir keinen Zugang zu diesen Informationen. Wissen und Handeln sind unsere moralische Pflicht. ||

DINA NAYERI: DER UNDANKBARE FLÜCHTLING
Aus dem Englischen von Yamin von Rauch | Kein & Aber, 2020 | 394 Seiten | 24 Euro

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