Internationale Schriftstellerinnen erörtern in »Schreibtisch mit Aussicht« Bedingungen ihres Schreibens – und führen so die Forderung von Virginia Woolf nach einem »Zimmer für sich allein« fort.
Virginia Woolf und ihre Nachfolgerinnen: Zur Welt in Beziehung
1946 machte George Orwell in der britischen Literaturzeitschrift »Gangrel« unter dem Titel »Why I Write« vier Motive für sein Schreiben aus: reiner Egoismus, ästhetische Begeisterung, historischer Impuls, politischer Zweck. Nach Orwell sinnierten Literaten wie Henry Miller und Lawrence Durrell über ihre schriftstellerischen Aktivitäten; »doch den Namen einer Frau sucht man in der Vierteljahresschrift vergeblich«, konstatiert die Autorin Ilka Piepgras. Einiges hätte sich seitdem geändert, Frauen gäben durchaus Auskunft über ihr Schreiben – zum Beispiel Joan Didion, die 1976, also 30 Jahre nach Orwell, ihren Vortrag ebenfalls mit »Why I Write« betitelte, und Anne Tyler, deren Essay »Still just writing« von 1980 Piepgras als »Keimzelle« für ihr Buch diente und, übersetzt von Sophie Zeitz, nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Dennoch sei die Literaturwelt weiterhin eine Männerdomäne: »Nach wie vor wird die Arbeit von Schriftstellerinnen weniger ernst- und wahrgenommen als die von Schriftstellern.« Doch während andernorts die Aufhebung der Geschlechterrollen gefordert oder auch akribisch untersucht wird, wie wenig Bücher von Frauen im Vergleich zu denen von Männern rezensiert werden, wählt Piepgras einen anderen Weg: Sie schenkt in »Schreibtisch mit Aussicht« 23 Schriftstellerinnen ausreichend Raum, um übers Schreiben zu schreiben. Einige Beiträge entstanden
direkt für die Anthologie, andere wurden eigens dafür übersetzt und weitere, von Siri Hustvedt oder Zadie Smith, nochmals abgedruckt.
Bei der Lektüre zeigt sich schnell: Die facettenreichen Persönlichkeiten lassen sich nicht auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren, vielmehr bewerten sie Weiblichkeit in Kombination mit schriftstellerischem Erfolg disparat. So hadert Eva Menasse damit, dass sie am Schreibtisch nicht wie sonst in ihrem Leben »rational, geplant und ordentlich« sein kann: »beim Schreiben bin ich weiblich«. Antonia Baum wehrt sich vehement gegen das Konzept eines spezifisch »weiblichen Schreibens«, nennt sich »Schriftsteller« und stößt damit an Grenzen. Kathryn Chetkovich seziert in ihrem Text »Neid« ihre ambivalenten Gefühle, als der zu Beziehungsbeginn gänzlich unbekannte, von seiner eigenen Arbeit überzeugte schreibende Mann an ihrer Seite zum Weltstar aufsteigt. Sein Name: Jonathan Franzen.
Elke Schmitter gesteht Skrupel, »über ein Leben zu schreiben, das ich nur besichtigen kann, also ›das Leben der anderen«, und identifiziert diese Selbstbeschränkung als »eher weiblich als männlich«. Elif Shafak interessieren weniger Geschlechterfragen als vielmehr (Mutter-) Sprachen als Heimat, genau wie Terézia Mora, die Literatur als ihr Zuhause bezeichnet. Katharina Hagena hofft indes sehr, dass ihre Bücher Frauenliteratur sind – solange damit auch die »Texte von Virginia Woolf, Jane Austen, Toni Morrison, Emily Brontë, Jeannette Winterson und Elfriede Jelinek gemeint seien«. Die zuletzt Genannte prangert wenige Seiten zuvor die »Verachtung des weiblichen Werks« an. Und erstere war schon 1929 davon überzeugt, dass Frauen, »wenn wir noch etwa ein Jahrhundert leben […] und jede von uns fünfhundert im Jahr und ein Zimmer für sich hat«, den Mut fänden, genau das zu schreiben, was sie denken, und sich nicht immer in Beziehung zu anderen setzen würden. Denn es sei Tatsache, so Virginia Woolf in ihrem von Antje Rávik Strubel neu übersetzten berühmten Essay, dass Frauen »allein unterwegs sind und unsere Beziehung die Beziehung zur wirklichen Welt ist und nicht nur zur Welt der Männer und Frauen«. ||
ILKA PIEPGRAS (HRSG.):
SCHREIBTISCH MIT AUSSICHT
Kein & Aber, 2020
286 Seiten | 23 Euro
VIRGINIA WOOLF: EIN ZIMMER FÜR SICH ALLEIN
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel | Kampa Verlag, 2020 | 192 Seiten | 12 Euro
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