Bayerischer Buchpreis: The winner is …

Der Bayerische Buchpreis – in diesem Jahr zum siebten Mal vergeben – hat sich fest etabliert im Reigen der Literaturpreise. Die öffentliche Jurysitzung, in der jeweils ein Preis in den Kategorien Belletristik und Sachbuch ermittelt wird, hat schon für viel Diskussionsstoff gesorgt (im letzten Jahr musste gar eines der drei Sachbücher wegen Plagiatsverdachts im letzten Moment aus dem Wettbewerb genommen werden, was einen Juror zu unangemessen harscher Kritik, so die einen, zu deutlicher Verurteilung, so die anderen, verleitet hat). Diskutiert jedenfalls werden die Liveentscheidungen der Jury (in diesem Jahr Sonja Zekri, Rainer Moritz und Knut Cordsen) beim anschließenden Empfang stets mit großem Engagement. Viel Livepublikum wird es diesmal freilich kaum geben, immerhin lässt sich die Preisverleihung am 19. November aber per Livestream mitverfolgen. Nominiert sind im Sachbuch Max Czollek: »Gegenwartsbewältigung« (Hanser), Jens Malte Fischer: »Karl Kraus. Der Widersprecher« (Zsolnay) und Hedwig Richter: »Demokratie. Eine deutsche Affäre« (C.H. Beck). Die drei in der Belletristik nominierten Bücher von Ulrike Draesner, Dorothee Elmiger und Iris Wolff werden hier vorgestellt.

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Ulrike Draesner | © Gerald Zörner@gezett_hon.frei

ULRIKE DRAESNER: SCHWITTERS
Penguin Verlag, 2020
480 Seiten | 25 Euro

VON DER SICH WINDENDEN, SCHWINDENDEN SPRACHE
Bei manchem Künstler überstrahlen ein, zwei, maximal drei Arbeiten das Gesamtwerk. Der Lyriker, Werbegrafiker, Maler und Installationskünstler Kurt Schwitters dürfte zu ihnen gehören. Beinahe jeder kennt seine dadalyrisch betörende Hommage »An Anna Blume«. Einigen ist sicher auch die buchstabenhörige »Sonate in Urlauten« ein Begriff. »Fümms bö wö tää zää Uu«, so etwas vergisst man nicht. Ebenso wenig wie die Rekonstruktion des raumgreifenden, höhlengleichen »Merzbaus« im Sprengel-Museum. Das Original, an dem der Künstler seit den Zwanzigerjahren in seinem Haus in Hannover gewerkelt hatte, wurde bei einem Bombenangriff 1943 zerstört.

Kurt Schwitters war jedoch weit mehr als seine bekanntesten Werke. Als erster bildender Künstler benutzte er ausnahmslos von der Straße aufgelesene Dinge als Arbeitsmaterial, Kippen, Werbezettel, Scherben, bis hin zu Knochen. Die Collage war sein ureigentliches Metier. Ulrike Draesner nahm sich für ihren sprachmächtigen Roman »Schwitters« diese Technik zum stilistischen Vorbild. Das Buch über den gebürtigen Hannoveraner ist keine klassische, linear erzählte Biografie. Allein schon deshalb nicht, weil es sich auf den späten, relativ unbekannten Schwitters konzentriert. Es setzt ein mit der Flucht zu seinem Sohn Ernst 1937 nach Norwegen und endet mit dem Tod des Sechzigjährigen im englischen Exil 1948. Vielmehr ist es eine vielstimmige literarische Collage. In den Schilderungen seiner in Hannover mutig die Stellung haltenden Frau Helma, seines ihm in einer Art Hassliebe verbundenen Sohnes Ernst und seiner späteren Geliebten Wantee nimmt Kurt Schwitters in Draesners Roman Gestalt an. Natürlich kommt er auch ausgiebig selbst zu Wort. Draesner wechselt geschickt zwischen Innen- und Außenperspektive, Frauenund Männerstimme, Fakt und Fiktion. Gerade weil sie im Grunde ihrer Fantasie mehr vertraut als nüchternen Daten, die sie bei der akribischen Recherche in zahllosen Archiven durchaus angesammelt hat, gelingt es ihr, dass wir dem Menschen, Frauenliebhaber und Künstler Schwitters, Spitzname Jumbo, Spitzname Kuh-Witters, Spitzname Körrt, nahekommen.

Das Thema Exil treibt Draesner seit ihrem Roman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« um. Flucht und Vertreibung bedeuten auch für Schwitters neben finanzieller Unsicherheit vor allem den Verlust der Sprache. Spätestens in England wandelt er sich zu einem neuen Menschen: »Er fühlte, wie es ihn veränderte, sogar körperlich, dass er auf Englisch dachte statt auf Deutsch, seinem eingeborenen, verlorenen, sich windenden, schwindenden Deutsch.« Draesner schrieb »Schwitters« zunächst auf Englisch. Danach sollte diese Fassung ins Deutsche übertragen werden. Der Plan scheiterte, und die Autorin setzte sich erneut hin und schrieb einen zweiten, einen deutschsprachigen »Schwitters«. Gerade weil sie das Problem des Denkens und Dichtens in zwei Sprachen am eigenen Leib nachvollzog, vermittelt der Roman einen packenden Eindruck davon, was es heißt, die Muttersprache zu verlieren. »It’s complicated. Das Sätzchen war abscheulich genau, dabei hilflos ehrlich. Er hatte eine seiner Collagen danach benannt.« ||
FLORIAN WELLE

 

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Dorothee Elmiger | © Peter-Andreas Hassiepen

DOROTHEE ELMIGER: AUS DER ZUCKERFABRIK
Hanser Verlag, 2020 | 272 Seiten | 23 Euro

SÜSSES BEGEHREN
Es ist die eigenwilligste Arbeit der in diesem Jahr für den Bayerischen Buchpreis nominierten Belletristiktitel. Die Frage, worum es in Dorothee Elmigers »Aus der Zuckerfabrik« geht, ist aus dem Stand gar nicht so leicht zu beantworten. Das zentrale Motiv ihres Textes, der Zucker, wird zwar bereits im Titel vorweggenommen, es geht aber im Buch der jungen Schweizer Autorin um weitaus mehr als um den beliebten Süßstoff. In Elmigers fragmentarischem Textkonstrukt kommt dem Zucker die Rolle eines gedanklichen Gravitationszentrums zu. Sämtliche Handlungselemente bewegen sich um ihn. Wobei man von einer Handlung im Sinne eines klassisch plotgetriebenen Romans nicht sprechen kann.

Dorothee Elmiger hat sich im Fall ihrer Zuckerfabrik für eine im Flattersatz daherkommende, frei assoziierende Form entschieden, eine, die zwar improvisiert wirkt, dennoch streng ist in ihrer Methode; hingetupft, doch aufs Äußerste kontrolliert. Ein solches Erzählen kennt freilich Vorbilder, erinnert es doch an die Arbeiten von Maggie Nelson (»Bluets«), Elizabeth Hardwick (»Schlaflose Nächte«) oder Renata Adler (»Rennboot«). Im deutschen Sprachraum ist diese Form, changierend zwischen Essay, Lyrik, Aphorismus, wissenschaftlichem Arbeiten und Autofiktion, bisher nicht groß in Erscheinung getreten.

Das ändert sich mit diesem Buch, das es unter anderem auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Nicht nur der Zucker ist darin ein zentraler Bezugspunkt, sondern auch das mit ihm in Verbindung stehende Begehren. Das Begehren zivilisatorischer Art, nämlich das nach den süßen Reichtümern und Schätzen ausgebeuteter Kolonialregionen wie etwa Haiti, genauso aber auch das persönliche Begehren. Dorothee Elmiger nennt es einen Drang, aus sich hinauszugehen, der allem Orgiastischem zugrundeliege (»Trunkenheit, Mystik, Verliebtsein usw.«). Die Autorin erschrickt über sich selbst, wenn sie von ihrem Hunger schreibt – vom »Hunger als Verfassung«. Auf multiplen Ebenen handelt »Aus der Zuckerfabrik« von den Fallstricken des menschlichen Begehrens, und die Autorin jongliert ein Potpourri an Erzählelementen. Da wäre etwa der traurige Lebensweg eines Schweizer Lottokönigs, die Geschichte einer Psychiatriepatientin im 19. Jahrhundert sowie die autobiografischen Stationen der Erzählerin selbst. Von größter Bedeutung sind auch die künstlerischen Begegnungen etwa mit John Berrymans »Dream Songs«, den Filmen von Chantal Ackerman und den Schriften von Marie Luise Kaschnitz. Auch deren Schaffen verleibt sich Dorothee Elmiger im Laufe ihrer literarischen Recherche ein, um das gewonnene Material zu etwas künstlerisch Eigenständigem zu verdichten – das gelingt ihr ganz famos. Ihr schriftstellerisches Begehren wirkt ansteckend auf die Lesenden dieser clever konstruierten Anti-Erzähl-Literatur. Augenblicklich will man mehr davon, mehr von Elmiger und ihrem Buch und seiner eigenwilligen Form, die ein Versprechen zu sein scheint, uns einen neuen Zugang zur Wirklichkeit zu verschaffen. ||
CHRIS SCHINKE

 

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Iris Wolff | © Annette Hauschild – Ostkreu

IRIS WOLFF: DIE UNSCHÄRFE DER WELT
Klett-Cotta, 2020 | 215 Seiten | 20 Euro

ÜBER GRENZEN
Der jüngste Roman der 1977 im siebenbürgischen Hermannstadt geborenen, heute in Freiburg lebenden Autorin heißt »Die Unschärfe der Welt«. Der Klang der Sprache, der Rhythmus und die Musikalität dieser Prosa faszinieren von der ersten Seite an. Das ist der unnachahmliche Wolff-Sound. Erzählt wird, über vier Generationen hinweg und durch sie hindurch, die Geschichte einer Familie aus den Karpaten und dem Banat, die sich den Stürmen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt sieht. Sieben Hauptfiguren, die zusammengehören und immer zusammengehören werden, über geografische und andere Grenzen hinaus. Menschen, die sich selbst in der Volksrepublik Rumänien ihre persönliche Würde, ihre ganz eigenen
Wünsche und Sehnsüchte nicht zerstören lassen, haben es schwerer als die Vögel – Freiheit gibt es keine, Grenzen viele.

Man lebt mit den Jahreszeiten und den Schafen, mit dem Schweigen, den Selbstmördern und dem Dorfspitzel. »Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.« In diesem Roman muss man aufmerksam auf die Zeiten achten, denn die gehen oft fast unmerklich ineinander über – das schöne Grass-Wort von der »Vergegenkunft« liegt nahe. Und man lebt mit der in Sprache kondensierten Lebensweisheit von Generationen – eine Spezialität von Iris Wolff, deren dritter Roman gar eine Redensart zum Titel hatte: »So tun, als ob es regnet« (2017). Wie in diesem Buch, das die Autorin erst so richtig bekannt machte, erzählt sie auch in »Die Unschärfe der Welt« sprachtrunken und träumerisch, zugleich aber äußerst präzise und angenehm ruhig. Achtsames Erzählen könnte man das nennen.

Ein zentrales Kapitel berichtet von einer spektakulären Republikflucht per Propellerflugzeug. Die perfiden Repressionen des Regimes werden schonungslos geschildert, der Diktator und seine Frau werden mit Namen genannt und in Grund und Boden verdammt – eine derart scharfe und gnadenlose, eine derart sprachgewaltige Abrechnung mit dem »Genie der Karpaten« gab es bisher nicht. Iris Wolff ist auch eine eminent politische Autorin. Dann der Winter 1989. »Die Nachrichtensprecherin gab bekannt, dass der Diktator und seine Frau auf der Flucht waren. Samuel fragte, ob er telefonieren könne.« Die schweigsame und souveräne, seit vielen Jahren im Westen lebende Hauptfigur des Romans hält nun nichts mehr – Samuel muss los. »Die Straßen des Dorfes waren verlassen. Alles sah aus wie immer. Und war nicht wie immer.« Es gibt ein ergreifendes Wiedersehen mit den alt gewordenen Eltern – und mit Samuels Jugendliebe, die ein kleines Mädchen an ihrer Hand hält, Livia, Liv, die nächste Generation. Iris Wolff kann auch Sentiment und Pathos. Man darf ihre Bücher zur interkulturellen Literatur rechnen: Fremd sein, sich fremd fühlen, als fremd betrachtet werden, das ist immer wieder ihr Thema. Was Iris Wolff auch kann, ohne dass es im geringsten stört: den Erzählfluss unterbrechen, poetologische Reflexionen einschalten, Fragen erörtern wie die nach dem Funktionieren von Gedächtnis. Vor allem aber kann sie zaubern, durch traumsichere, taghelle Sprachmagie bezaubern. Am Ende wird nicht alles gut, aber es geht weiter. Immer weiter. Iris Wolff führt uns vor, was Literatur, die ihren Namen verdient, heute sein kann. ||
KLAUS HÜBNER

Der Bayerische Buchpreis wird am 19. November (20.05 Uhr) vollständig auf Bayern 2 und im Live-Stream auf der BR KulturBühne übertragen.

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