Beständigkeit in Lockdown-Zeiten bietet das virtuelle Heimkino. Unsere Bluray- und Streamingtipps für November.

Heimkino: Kinnhacken, Kammerspiel und bayerische Karossen

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Weißrussland 1943: Während im Inferno des »Großen Vaterländischen Krieges« die barbarischen Massaker an der Zivilbevölkerung durch Waffen-SS und Sonderkommandos unentwegt zunehmen, formiert sich in den dichten Wäldern und Morastlandschaften stetiger Widerstand. Zur gleichen Zeit gräbt Florja, den Aleksei Krawtschenko unvergesslich authentisch verkörpert, an einer Sandbucht nach Waffen und Patronen. Der pubertierende Knirps möchte sich gegen das Veto seiner Mutter für die Partisanenverbünde rekrutieren lassen, auch wenn ihn diese zuerst gar nicht ernst nehmen. Dort trifft er die etwas ältere Glascha (Olga Mironowa). Beide kommen sich zögerlich näher, ehe die ersten Schüsse fallen, Fallschirmjäger abspringen und der Partisanenverschlag durch deutsche Bomben in Flammen aufgeht. Was bei der anschließenden Rache- und Sühne-Odyssee in Elem Klimows zeitlosem Höllentrip »Komm und sieh« passiert, lässt sich auch 35 Jahre später schwer in Worte fassen: im Grunde kaum aushalten. Kein weiterer Spielfilm des 20. Jahrhunderts versetzt dem Betrachter einen derart unangenehmen Kinnhaken nach dem anderen. Dagegen wirken künstlerisch ambitionierte (Anti-)Kriegsfilme wie »Apocalypse Now«, »Die durch die Hölle gehen« oder »Der schmale Grat« wie schwedische Sommerurlaube. Wer aber mit den manieristisch-synästhetischen Überwältigungsstrategien essentieller Meisterwerke des Sowjetkinos wie Tarkowskis »Iwans Kindheit« (1962) oder »Der Aufstieg« (1977) vertraut ist, wird in Klimows ebenso suggestives wie aufrüttelndes Abschiedswerk strudelhaft hineingezogen. »Gibt es ein Mittel gegen die so nachhaltig verführerische Wirkung, die vom Krieg ausgeht?«, fragte Susan Sontag in ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten«. Elem Klimow hat ihr mit »Komm und sieh«, der dank des Verleihs Bildstörung endlich in einer digital vorzüglich restaurierten und ungeschnittenen Fassung mit umfangreichem Bonusmaterial vorliegt, diese Frage höchst imposant beantwortet: Denn die »Liebe zum Unheil« ist dem Menschen genauso eingeschrieben »wie die Fähigkeit zum Mitleid« (Susan Sontag). ||
SIMON HAUCK

KOMM UND SIEH
Sowjetunion 1985 | Regie: Elem Klimow
Mit: Alexei Krawtschenko, Olga Mironowa, Liubomiras Laucevičius | 146 Minuten
Auf DVD und Bluray bei Bildstörung erschienen

 

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»In diesem Fall ist eben der richtige Mann eine Frau«, verkündet der Vorstandvorsitzende plötzlich gegenüber der charmantresoluten Bankerin Julia Heininger (Uschi Glas) zu Beginn der Familienserie »Zwei Münchner in Hamburg«, die zwischen 1989 und 1993 als echter Straßenfeger im ZDF lief. Der rasche Umzug weg von der Isar und direkt an die Alster fällt der feschen Abteilungsleiterin der Bayernbank München, die nun die Hamburger Filiale des Geldhauses führen soll, anfangs nicht leicht: »Warum is’ mia der Abschied bloß so schwer g’falln? Is’ ma wirklich in erster Linie Bayer und dann erst berufstätig?«, sinniert die braun getönte Uschi Glas bei der Hinfahrt im Autozug zu James Lasts schwofenden Heimatrhythmen. Schon bei den ersten Blicken hinaus auf die Landschaft um Hamburg herum denkt sie an »Reiberdatschi« und ihren geliebten Tegernsee. Wo soll man in der Hansestadt nur Ski fahren und wandern gehen? Hinter der abrupten Versetzung gen Norden vermutet die geschiedene Heininger ihren Scheinkollegen Dr. Ralf Maria Sagerer, der alsbald selbst an die Alster geschickt wird. Nach ihrer ersten Paar-Performance in »Polizeiinspektion 1« (1977–1988) und »Unsere schönsten Jahre« (1983–1985) verdreht Glas ihrem Schauspielkollegen Elmar Wepper in diesem ebenso zahmen wie zeitgeistigen Vorabendspaß schon zum dritten Mal den Kopf, was mitunter auch 2020 noch Freude beim Zuschauen macht: Der Flughafen München-Riem und die dicken bayerischen Karossen (Autokennzeichen M-HH 6225). All die blaugrauen Jacketts und Blusen. Dazu jede Menge orange getönte Kaschmirschals, rehbraune Lederhandtaschen, extravagante Broschen und diverse Gloria-von-Thurn-und-Taxis-Gedächtnis-Föhnfrisuren als visuelles Schmankerl. Mei, so schön extravagant war’s amal in der mittleren HelmutKohl-BRD – und gleichzeitig so harmlos. ||

ZWEI MÜNCHNER IN HAMBURG
Deutschland 1989–1993 | Buch und Idee: Karlheinz Freynik | Mit: Uschi Glas, Elmar Wepper u.a. | 3 Staffeln mit 37 Episoden
630 Minuten | Auf DVD erhältlich

 

Die Heimkino-Tipps vergangener Ausgaben finden Sie im Film-Menü der Website.

 

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Robin de Jesús (links), Jim Parsons und Andrew Rannells in der schwulen Kultfilmneuaflage »The Boys in the Band« | © Scott Everett White/NETFLIX

Es mag redundant und verwegen erscheinen, einen Kultfilm neu zu drehen, und doch rentiert sich oft ein Blick auf die Beweggründe eines solchen Remakes. Bereits 1970 verfilmte der damals noch unbekannte Regisseur William Friedkin ein Off-Broadway-Stück, das 1968 für Furore gesorgt hatte: Mart Crowleys »The Boys In The Band«, eines der ersten Dramen mit ausschließlich homosexuellen Figuren. Das Kammerspiel bringt die Frustration der Community auf den Punkt, die eigene Identität in der Öffentlichkeit nicht ausleben zu können. Eine schwule Geburtstagsfeier in der New Yorker Wohnung des Gastgebers Michael wird von dessen heterosexuellen Studienkollegen mit einem Überraschungsbesuch gestört. Dieser löst in den sechs Schwulen eine ganze Bandbreite an Verhaltensweisen aus, denn zur Entstehungszeit des Dramas und der ersten Verfilmung standen homosexuelle Handlungen in den USA noch unter Strafe – ein Umstand, der erst 2003 vom Supreme Court gekippt wurde. Versucht Michael zu Beginn noch so zu tun, als sei er nicht homosexuell, eskaliert die Situation, als der exaltierte Emory Alan unterstellt, selbst schwul zu sein, und eine hitzige Diskussion über das Selbstverständnis Homosexueller und deren Loyalität zur eigenen Community unter den Freunden entbrennt. Friedkins Film gilt auch heute noch als wichtiger Befreiungs-Anzeigeschlag für das Queer Cinema. Die überaus kurzweilige Neuverfilmung ist nun, über 50 Jahre später, ein weiterer winziger Schritt in Richtung Gleichberechtigung und Repräsentanz: »The Boys In The Band« ist der erste Film, in dem alle homosexuellen Figuren auch von homosexuellen Schauspielern dargestellt werden – ein Durchbruch, denn im ach so aufgeklärten Hollywood werden homosexuelle Schauspieler und Schauspielerinnen weiterhin nur akzeptiert, wenn sie das heteronormative Konzept der Kernfamilie imitieren. Umso bezeichnender ist es, dass hier Zachary Quinto, der vor seinem Coming-out noch als Mr. Spock in den neuen »Star Trek«-Filmen gehyped und anschließend, wie er selbst bestätigt, fallen gelassen wurde, in einer zentralen Rolle besetzt ist. Dass obendrein neben Stars wie Jim Parsons und Matt Bomer auch unbekannte Darsteller zu sehen sind, macht »The Boys In The Band« zu einem wichtigen Statement zur richtigen Zeit. ||
SOFIA GLASL

THE BOYS IN THE BAND
USA 2020 | Drehbuch: Mart Crowley und Ned Martel nach Crowleys Theaterstück | Regie: Joe Mantello | Mit: Jim Parsons, Matt Bomer, Zachary Quinto | 121 Minuten | Auf Netflix

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