In diesem Jahr von zu Hause aus: Das Filmschoolfest 39½ zeigt Filme aus aller Welt für alle Welt.
Filmschoolfest 39½: Filmideen für die Welt
Und auch sie gehen online! In weiser Voraussicht hat sich nun auch das Filmschoolfest entschieden, in digitale Sphären abzuwandern. Man braucht es gar nicht zu leugnen: Der Beigeschmack ist bitter. Wieder kein Festivalfeeling, wieder kein Leinwanderlebnis, wieder kein direkter Austausch mit anderen Filmbegeisterten. Doch in diesem Fall macht die Entscheidung nicht nur aus Sicht der Pandemieplanung Sinn. In Zusammenarbeit mit dem Streamingportal Pantaflix machen die Veranstalter die vierzigste Jubiläumsausgabe unter dem Titel »Filmschoolfest 39½« für die ganze Welt verfügbar.
Davon profitieren ganz klar die jungen Regisseure und Regisseurinnen, die ihre Beiträge in diesem Jahr aus insgesamt 21 Ländern eingereicht haben. Eine bessere Möglichkeit, ein großes Publikum mit der eigenen Abschlussarbeit zu erreichen, gibt es wohl kaum, zumal in diesen schwierigen Zeiten. Ansonsten hat sich in diesem Jahr nicht allzu viel geändert. Fünfzig Filme werden gezeigt, von der Jury aus 242 Einreichungen ausgewählt. Zu dieser zählen neben der Präsidentin Julia von Heinz (»Und morgen die ganze Welt«) unter anderem der brasilianische Filmemacher Peter Azen und die russische Kritikerin Ksenia Reutova. Wieder werden in den Kategorien Spiel-, Dokumentar-, Animations- und Experimentalfilm Preisgelder von insgesamt 35.000 Euro verliehen. Auch die HFF-Specials für Produktionen der Hochschule für Fernsehen und Film in München sowie der Sonderwettbewerb »Climate Clips Award« finden wie immer statt. Und dieses Mal kann sich das Publikum sogar drei Tage länger in die Filmauswahl vertiefen (12. bis 22. November).
Diese Zeit sollte man nutzen. Auch 2020 wird wieder die ganze inhaltliche und stilistische Palette abgedeckt, die man vom Filmschoolfest kennt. Egal, ob experimentell oder dokumentarisch, ernst oder lustig, privat oder politisch – der Blick geht in alle erdenklichen Richtungen. Auch in abstruse: Da spielt schon mal eine Socke bei der Wiener Staatskapelle vor, wie in »Das beste Orchester der Welt« von Henning Backhaus, oder die große Dame des Filmschnitts Anne V. Coates kommt mit den Figuren aus ihren Arbeiten ins Gespräch (»Art of the Cut« von Alessandra Carlino). Neben diesen sympathischen Ausflügen in die Fantasie steht natürlich auch der Blick auf die realen Probleme dieser Zeit. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der belgische Beitrag »Faces« von Paul Vincent De Lestrade. In einer Mischung aus kühler Dokumentation und ätherischem Essay betrachtet er kritisch moderne Schönheitsideale. Er interviewt verschiedene Frauen aus China, die sich plastischer Chirurgie unterzogen haben, ohne dabei entblößend oder anklagend zu werden. Auch aus Belgien stammt der Kurzfilm »Gold Plated« von Chloé Léonil. Aus der Sicht einer Teenagerin erfährt man hier, wie peinigend Klassenunterschiede sein können, wobei einseitige Anklagen geschickt vermieden werden.
An »Gold Plated« fällt aber auch auf, welches Potenzial in den FilmemacherInnen schlummert. Es fällt nicht schwer, sich vieleBeiträge als den Vorgeschmack auf einen abendfüllenden Spielfilm vorzustellen. Dazu zählt auch der Schweizer Film »L’homme Jetée« von Loïc Hobi. In trister Hafenkulisse begleitet man einen jungen Mann, der eingekeilt zwischen stupider Maskulinität und unterdrückter Homosexualität nach Zärtlichkeit und Zukunft sucht. Die iranische Arbeit »The Other« (R: Ako Zandkarimi und Saman Hosseinpuor) zeigt einen Mann, der nach dem Tod seiner Frau vom Verdacht befallen wird, von ihr betrogen worden zu sein. Mit nur wenigen Mitteln schafft es das Regieduo, das seelische Loch und den anschwellenden Hass seines Protagonisten zu zeigen, wie es auch erprobte Arthaus-Spezialisten vermögen. Das ist um so erstaunlicher, da in »The Other« kein einziges Wort fällt.
Der Chinese Hanxiong Bo nähert sich in »Drifting« der Einkindpolitik seines Landes,geht dabei aber noch einige Schritte weiter. Da die Hauptfigur als Mädchen aufgezogen wurde, um sie vor den Behörden als die ältere, versteckte Schwester ausgeben zu können, steht sie nun im Konflikt mit transsexuellen Neigungen und den Erwartungen der Eltern. Die Thematik ist aus westlicher Sicht zunächst schwer zu durchschauen. Die Atmosphäre, die hier jedoch geschaffen wird, zieht das Publikum so sehr in ihren Bann, dass man sich für20 Minuten nicht mehr lösen kann und eher enttäuscht über das verfrühte Ende ist.
Humorvoller und in einer fast schon kaurismäkiartigen Lakonie präsentiert Yaroslav Lebedev seine Arbeit »Living It Up«. Ein russischer Arbeiter und seine Freunde gönnen sich mit erschlichenem Geld einen »ausgelassenen« Abend, der im Endeffekt nur leer ist und in comicartiger Gewalt endet.
Das alles zeigt, dass es sich auch vom heimischen Bildschirm aus lohnt, am Filmschoolfest teilzunehmen. Hochwertige Filmkunst funktioniert überall, so sehr auch das Festivalherz zurückstecken muss. Und wie die Figuren aus »Living It Up« am Ende beschließen: »Nächstes Jahr wieder«. Dann hoffentlich für das Münchner Publikum wieder mit Leinwand, Kinosessel und anschließenden Diskussionen. ||
FILMSCHOOLFEST MUNICH 39½
12.–22. November | Auschließlich online
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