Die Autobiografie des österreichischen Autors und Regisseurs Ernst Lothar erzählt von einer untergegangenen Welt und vom Kampf eines Schriftstellers gegen das Scheitern.
Ernst Lothar: Lebenshilfe von Doktor Freud
Was passiert, wenn einem die Heimatliebe zum Verhängnis wird? Davon erzählt eindringlich – und auch mit sich ins Gericht gehend – Ernst Lothar in seiner Autobiografie. Die erschien 1960, Lothar war damals prägender Oberspielleiter des Wiener Burgtheaters. Gleich zu Beginn trauert der Autor der k.u. k. Monarchie nach, denn während er als junger Mann Karriere macht, findet sie ein jähes Ende. Eigentlich war Lothar eine Laufbahn als Jurist beschieden, da er sich aber zu den schönen Dingen des Lebens berufen fühlt, wirkt er seit 1911 auch als Schriftsteller, Theaterkritiker, Regisseur sowie schließlich auch als Direktor des Theaters in der Josefstadt. Unter anderem ist er Weggefährte des großen Max Reinhardt. Alle Kontakte helfen Ernst Lothar nicht, als der Anschluss Österreichs an Nazideutschland erfolgt. Ehemalige Kollegen denunzieren ihn, schließlich wird Lothar, der jüdisch ist, die Arbeit an der gewohnten Wirkungsstätte verunmöglicht. Zunächst aureiseunwillig, entschließt er sich doch zur Flucht zu seinem Bruder in die Schweiz. Ein permanentes Exil dort wird ihm verwehrt. Lothar bleibt nichts anderes als gemeinsam mit seiner Tochter weiterzufliehen, zunächst nach Frankreich und von dort aus in die Vereinigten Staaten nach New York. Anders als vielen europäischen Kulturmenschen gelingt es Ernst Lothar, in den USA Fuß zu fassen. Seine Bücher landen auf Bestsellerlisten, er wird zum Universitätsprofessor berufen, und seine Frau macht auf den Bühnen des Broadways Karriere.
Die Schrecken des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges erlebt Ernst Lothar aus der Ferne. Und doch bleibt der aus seiner Heimat schmählich Davongejagte seinem Österreich zutiefst verbunden. Nach dem Krieg nutzt er die erste Gelegenheit, um zurück nach Wien zu gelangen. Als Offizier der US-Army wird Lothar mit Entnazifizierungsaufgaben im Kulturbetrieb betraut. An dieser Aufgabe wird er scheitern. Wie so oft speist sich die Kraft des Literarischen aus einem solchen Scheitern. In einer frühen Schlüsselszene des Buches begibt sich der Ich-Erzähler zu Sigmund Freud in die Praxis. Eine Stelle, die allein schon die Lektüre von Lothars Memoiren lohnt. »Wie kann man ohne das Land leben, für das man gelebt hat?«, fragt Lothar den berühmten Nervenarzt. »Vielleicht hat es das Land, das Sie meinen, nie gegeben«, entgegnet der. An die Möglichkeit des Krieges haben Ernst Lothar und seine Generation nicht glauben wollen. Das verbindet sie auf unheimliche Weise mit uns heute. ||
ERNST LOTHAR: DAS WUNDER DES ÜBERLEBENS. ERINNERUNGEN
Zsolnay Verlag 2020 | 120 Seiten | 28 Euro
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