Das internationale Figurentheaterfestival München hat einen neuen Namen und stellt mit einerbgigantischen Corona-Ausgabe dem Einfallsreichtum des Genres ein Spitzenzeugnis aus.

Figurentheaterfestival 2020: Shoppen mit Moneymaus, und dann ab ins Cyberland

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In »Punch Agathe« vom Figurentheater Stefanie Oberhoff fällt die Moneymaus ein bisschen größer aus | © Marius Alsleben

Die zwei sind ein schräges Paar: Der knuddelige Panda, der sich existenzielle Fragen stellt – und der schlaksige Mann, der ihm dies ermöglicht. Er leiht ihm seine sonore Stimme, hilft ihm, sich am Bauch zu kratzen oder einen unsichtbaren Luftballon aufzublasen. Nur mit seiner Unterstützung kann der Kleine mit diesem Ballon fliegen wie weiland Pu der Bär – und doch stört ihn die Abhängigkeit von der Hand, die ihn führt. Das tschechisch-slowenische Teatro Matita kommt mit dem schwarzhumorigen »Happy Bones« nach München, worin der Musiker und Puppenspieler Matija Solce und die plüschige Quasselstrippe auf Selbstfindungstrip anfangs ganz alleine auf der Bühne sind. Enger als es derzeit erlaubt ist. Aber was soll’s! Puppen haben kein Corona. Deshalb dürfen sie ihren Spielern auch so nahe kommen, wie es beide gerade brauchen.

Trotzdem hing das Figurentheaterfestival München im April an einem seidenen Faden. Zwar fertig geplant, aber eben in einer Zeit vor unserer Zeit – international, ohne formale Schere im Kopf und in der Hoffnung auf volle Säle. Von »So tun, als wär nix« bis »Ausfallen lassen!« standen laut Jörg Baesecke fünf mögliche Szenarien im Raum. Der Präsident der Gesellschaft zur Förderung des Puppenspiels, genauso wie Frauke von der Haar, die neue Direktorin des Münchner Stadtmuseums, sind nun beide froh, dass Festivalleiterin Mascha Erbelding sich das Spielen partout nicht ausreden lassen wollte. Von der Haar lobt Erbeldings »Kampfgeist« und freut sich auf ihr erstes Figurentheaterfestival. München kennt dessen wechselnde Gestalt seit 24 Jahren, muss sich aber künftig an einen neuen Namen gewöhnen: »Wunder.« heißt das Internationale Figurentheaterfestival München ab sofort. Ausgesprochen wird das »wunder Punkt«. Denn es will natürlich verzaubern und staunen machen, aber auch dort hinschauen, wo es wehtut und brennt. Der Name, sagt Erbelding, habe sie und ihre Kooperationspartnerinnen Andrea Gronemeyer von der Schauburg sowie Marion Schäfer und Conny Beckstein vom Verein Kultur & Spielraum während der letzten Monate getragen und darin bestärkt, dass ein so verstandenes Theater gerade wichtiger ist denn je. Ein erstes Wunder ist schon mal, dass das Festival stattfindet. Ein zweites, dass es trotz weitreichender Umplanungen so groß und in begrenztem Umfang auch international geblieben ist.

30 Produktionen aus Tschechien, Slowenien, Frankreich, der Schweiz, Israel und Deutschland beleben 16 Tage lang die bewährten Spielorte vom HochX bis zur Pasinger Fabrik, aber vermehrt auch den Stadtraum. Bei dessen Eroberung kommt dem Figuren-, Objekt- und Materialtheater seine ohnehin fantastische Vielseitigkeit zugute. So gibt es etwa einen Audiowalk im öffentlichen Raum oder einen nächtlichen Parcours durchs Stadtmuseum, bei dem eine »Séance« (von Dekoltas Handwerk) und Ariel Dorons »Unboxing« pünktlich zu Halloween für Gruselstimmung sorgen dürften. In einem »Lobbüro« kann man sich in Fünfergruppen bei »Experten für angewandte Anerkennung« Bauchpinseleien abholen (Flunker Produktionen, Wahlsdorf) oder man greift solo zum Telefon, wenn Anna Kpok anruft, um Geschichten über Macht und Denkmäler loszuwerden (»Wir müssen reden«). Das Berühren wunder Punkte ist dabei ebenso intendiert wie bei der familiären Tiefenbohrung der Berliner Puppenspielerin Ute Kahmann, deren Vater alleine in den Westen rübermachte und dort ein schwules Leben führte, ohne sich gegenüber seiner Familie zu outen. Der Trailer von »Queer Papa Queer« macht Lust auf eine tolle Mischung aus rotziger Direktheit und zartem Puppenspiel, die persönliche Verletzungen ebenso offenlegt wie die Geschichte des § 175.

Dass das Platzangebot in diesem Jahr besonders knapp ist, hat mit den Coronaregeln, aber auch mit den Darstellungsformen zu tun. Wenn die Figuren klein sind, brauchen sie Nähe. So arbeitet Tristan Vogt von Thalias Kompagnons aus Nürnberg in »Daheim in der Welt« mit winzigen Fundstücken (und kommt damit auf Anfrage auch in Kindergärten). Und in »Millefeuilles« hat die französische Compagnie Areski eine Pop-up-Kulisse en miniature aufgebaut, die man sich mit seiner eigenen Taschenlampe erleuchten kann und dabei auf Geschichten stößt. Im Trailer sieht man einen kleinen Mann einen großen Stein schieben und denkt an Sagen und Märchen. Erbelding spricht von »einem Jedermann, der sich in seinem Leben zurechtfinden muss.«

Klein und zart dürfte auch das meiste sein, was beim vierten Papiertheaterfestival im Bürgerpark Unterföhring zu sehen ist, das vom 22. bis 25. Oktober ein ganz eigenes Programm zeigt und nur vermarktungstechnisch unter das Dach des Wunder. Festivals geschlüpft ist. Aber es geht natürlich auch groß, ja gigantoman: Mit »Punch Agathe« kommt der größte Kasper der Welt nach München. Agathe ist weiblich, schwarz – und wird mit Unterstützung ihrer künstlerischen Eltern aus Melbourne, Stuttgart und Kinshasa mit dauerhungriger »Moneymaus« und einem extra für sie angefertigte »Pucci«-Täschchen am Marienplatz shoppen gehen. Wie auch immer man sich das vorzustellen hat. Coronatauglich, sagt Erbelding, sei es jedenfalls: Die Puppen sind abwaschbar, die Spieler tragen Ganzkörperanzüge. Dann ist auch in diesen Zeiten Klotzen nicht verboten.

Weil es ihr wichtig war, die Künstler zu unterstützen, was ja immer am besten geht, indem man sie arbeiten lässt, wurde wenig abgesagt. Einige Gruppen kommen mit anderen als den ursprünglich eingeladenen Produktionen, andere haben Outdoorversionen ihrer Stücke erarbeitet. Und sieben neue Koproduktionen sind entstanden: So verhandelt etwa das Stuttgarter Ensemble Materialtheater in »Im Notfall nicht die Scheibe einschlagen« in telefonzellengroßen Glaskästen den Individualismus der westlichen Welt – ganz zeitgemäß auch mit Klopapier. In der Videoinstallation »Die Resi und der Kasperl« lässt das Münchner Kollektiv »What you see is what you get« Altenheimbewohner mit ausrangierten Puppen über ihre Erinnerungen ins Gespräch kommen, und die United Puppets aus Berlin laden Kinder zur Zoom-Geburtstagparty einer 250-jährigen Schildkröte ein.

In der diesjährigen Märchenzentrale Pasinger Fabrik können die Kids selbst ein Stück kreieren, außerdem kommt die immer tolle Margret Gysin, und ein »Rotkäppchen« mit Liveillustrationen und -musik liefert viel von dem Sinnenoverkill, den Kinder gerade jetzt brauchen. Während das Stuttgarter Duo Meinhardt & Krauss, das meistens für Erwachsene arbeitet, in dem Robotermärchen »A.L.I.C.E Lost in Cyberland« Lewis Carrolls bekannte Heldin durchs Kaninchenloch da hineinführt, wo während der Homeschooling-Wochen viele Eltern ihre Kinder aus den Augen verloren haben. Um sie wieder zurückzuholen, sei auch das Programm in der Schauburg empfohlen, deren Intendantin Andrea Gronemeyer für möglichst viele Kinderstücke gekämpft hat, inzwischen aber für ein ausgemachtes Frauenstück schwärmt. In »Aeterna« vom Théâtre de Mouvement verzaubern eine ältere und eine junge Frau mit Tanz, einer langgliedrigen Kinderpuppe, einem multifunktionalen großen Stoffball und einer Maske mit vielen Gesichtern ein Publikum jeden Alters. Ohne Worte geht es dabei ums Frausein, um Nähe, Solidarität, Geburt und Tod – und was immer man darin sehen will. Das ist ja gerade das Wunder. ||

WUNDER. INTERNATIONALES FIGURENTHEATERFESTIVAL
Verschiedene Spielorte | 17. Okt. bis 1. Nov.
Verschiedene Vorverkaufsstellen, in der Regel keine Abendkasse

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