Bettina Böhler zeigt in ihrem Dokumentarfilm »Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien« einen Künstler jenseits der üblichen Kategorisierung. Wir sprachen mit der Filmemacherin.
»Schlingensief fehlt uns enorm«
»Schrecklich, so ein Künstlerleben! Und gleichzeitig so faszinierend! Alles ist unordentlich, chaotisch, schmuddelig. Zuerst wird man als Nestbeschmutzer beschimpft, später gibt es Staatspreise.« Das, was Ingrid Caven 2007 im Streit um das künstlerische Erbe ihres Ex-Mannes Rainer Werner Fassbinder sagte, könnte man genauso gut auch auf den 2010 verstorbenen Christoph Schlingensief übertragen. Auch dessen Image hatte sich vom hyperaktiv-nervenden Schmuddelkind des Kulturbetriebs zum öffentlichkeitswirksamen Staatskünstler in Venedig und Bayreuth gewandelt.
Was eint diese beiden Künstler, was trennt sie? Und welche Persona Christoph Schlingensief haben Sie kennengelernt?
Bettina Böhler: Natürlich war Fassbinder ein Vorbild für ihn. Das sagt er auch einmal in meinem Film, obwohl er es erst mit Anfang 30 wirklich zugeben wollte. Trotzdem hinkt dieser oft herangezogene direkte Vergleich für mich auch in manchen Bereichen: gerade in puncto »persönlicher Lebenswandel und familiäres Umfeld«, wobei beide insgesamt sehr stark von ihren jeweiligen »Film- und Theaterfamilien« zehrten …
… die sich außerdem zum Teil aus demselben Personal speisten: Udo Kier, Irm Hermann oder Volker Spengler hatten tragende Rollen für beide Regisseure übernommen …
… was aber heute wiederum gar nicht mehr so viele wissen. Deshalb führte ich ihre Namen auch explizit noch mal im Abspann meines Schlingensief-Films auf, damit ihnen nochmals eine entsprechende öffentliche Plattform gegeben wird. Ohne deren Mitwirkung wären sicherlich beide Karrieren verschiedentlich verlaufen. Im direkten Vergleich war Schlingensief allerdings der liebenswürdigere »Familienvater«, weil er mit seinem künstlerischen Personal deutlich sanfter umging, als das bei Fassbinder der Fall war, der oft genug seine Krallen ausfuhr und sich im Prinzip um niemanden groß scherte, sondern seine »Familien« regelmäßig durchmischte.
Für wen haben Sie dieses intime Schlingensief-Porträt im übertragenen Sinn gedreht? Für seine Erben, die Berliner Filmgalerie 451, oder aufgrund des zehnjährigen Todestages? Zugleich ist es Ihre erste Filmregie überhaupt, nachdem Sie vorher schon Margarethe von Trotta bei ihrem späten Dokumentarfilmdebüt »Auf der Suche nach Ingmar Bergman« als Co-Regisseurin assistiert hatten.
Dieser Regieauftrag wurde in der Tat direkt von der Filmgalerie 451 an mich herangetragen. Ich habe ihn in erster Linie deshalb angenommen, weil ich mit meiner Arbeit gegen dieses ewige »Enfant terrible«-, Schmuddelkind- und Theaterclown-Image ankämpfe, das ihn bis heute umgibt. Das hatte mich früher immer schon im öffentlichen Diskurs gestört, was Schlingensief selbst natürlich auch extrem nervte. Er wurde wie viele große Künstler schnell in eine Schublade gesteckt, was jeden Kreativen sofort aufregt. Das ist auch bei mir nicht anders und leider in Deutschland anscheinend ein Muss im Feuilletonbetrieb. Gegen diese widerliche Mentalität des Abstempelns habe ich diesen Film gemacht.
Worin unterschied sich in der Herangehensweise an dieses Projekt Ihr eigener künstlerischer Blickwinkel: Sie sind schließlich nicht nur eine der bedeutendsten Editorinnen des deutschsprachigen Raums, die vielfach mit Christian Petzold, Oskar Roehler oder eben Christoph Schlingensief zusammengearbeitet hat, sondern nun auch alleinige Regisseurin. Und welche besondere Herausforderung war das für Sie im Rekurs?
Ich wurde tatsächlich schon öfter danach gefragt, einmal selbst Regie zu führen, wollte das aber im Grunde eigentlich nie wirklich. Als dann aber im Oktober 2018 die Anfrage von Frieder Schleich und Irene von Alberti von der Filmgalerie 451 auf einmal da war, habe ich nach einigem Hin- und Her-überlegen doch zugesagt. Schließlich hatte ich Christoph sehr gemocht, und wir hatten auch zweimal intensiv miteinander gearbeitet, woran ich mich heute noch gut erinnern kann. Es hat mir sicherlich sehr geholfen, dass Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz mein Vorhaben sofort voll unterstützt hat, was ich als unendlichen Vertrauensbeweis empfinde, weil ich zugleich einen universalen Zugang zu dessen ausuferndem Nachlass bekam. Trotzdem habe ich die Bürde dieses Projekts von vornherein gespürt, denn das ist schließlich der erste lange Film über ihn, der überhaupt je gemacht wurde. Wie kann man seine unbändige Energie auf der Leinwand zeigen?
Und wie wird man ihm als Menschen gerecht? Diese Leitfragen haben mich von Anfang an begleitet.
Hier die »Schlingensief«-Kritik von Matthias Pfeiffer
»Ich mache Bilder, aber ich stehe auch im Bild«, lautete einer von Schlingensiefs berühmten Leitsätzen. Es ist eigentlich schon Ironie der Mediengeschichte, dass der junge Apothekersohn aus Oberhausen in den 1960ern durch Doppelbelichtungsfehler beim Familienurlaub auf Norderney zum Medium Film gekommen ist, wie man das wunderbar amüsant in den ersten 20 Minuten Ihres Films erleben kann. Und diese unbändige Lust am Filmemachen, Ausprobieren, Verwerfen und Wieder-von-Neuem-Beginnen, hat ihn dann bis zu seinem medienwirksamen Tod begleitet.
Ich habe zu Beginn bewusst einen etwas leichteren Einstieg gewählt, ehe der Politkünstler, Mahner gegen Rechtsextremismus und Deutschland-Diskurs im Fokus steht, was mir sehr wichtig ist. Bei Christoph konnte man seine Person in der Tat spätestens seit den 1990ern nur noch schwer von der »Kunstfigur Schlingensief« trennen. Das wurde mir auch beim Wühlen in den unglaublichen Materialbergen schnell wieder klar. Dass ihn sein Vater so früh schon fast durchgängig mit Super-8-Film gedreht hat, war für mich natürlich ein zusätzliches Geschenk, weil das zur damaligen Zeit völlig ungewöhnlich war. Dass schon der junge Christoph durch das permanente Spiegeln und Gespiegeltwerden daraus sehr schnell eine »dritte Wahrheit« kreiert hat, darin liegt für mich sein künstlerisches Genie, was sein gesamtes Œuvre kennzeichnet. Darin war er absolut einmalig! Und so wurde er zum echten »Totalkünstler«! Aber das hat ihn natürlich auch als Menschen wie Künstler verbrannt. Deshalb fehlt er uns auch so enorm. ||
SCHLINGENSIEF – IN DAS SCHWEIGEN HINEINSCHREIEN
Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | Regie: Bettina Böhler | 130 Minuten
Kinostart: 20. August
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