Mirjam Zadoff leitet das NS-Dokumentationszentrum. Wir sprachen mit ihr über das fünfjährige Bestehen des Hauses, die Herausforderungen in Zeiten von Corona und über zukünftige Projekte.

NS-Dokumentationszentrum: Vergangenheit erinnern, Gegenwart erklären

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Direktorin Dr. Miriam Zadoff | © Orla Connolly

Seit dem Jahr 2015 besitzt München mit dem NS-Dokumentationszentrum einen zentralen Lern- und Erinnerungsort an die Verbrechen der Nazi-Diktatur. An seinem heutigen Standort befand sich das »Braune Haus«, einst Parteizentrale der NSDAP. Die ehemalige Adresse in der Brienner Straße wurde – nach dem Shoah-Überlebenden und Zeitzeugen – in Max-Mannheimer-Platz umbenannt. 2018 übernahm die in München promovierte und habilitierte Historikerin Mirjam Zadoff die Leitung des Hauses von ihrem Vorgänger, dem Gründungsdirektor Winfried Nerdinger. Seitdem erfährt das NS-Dokumentationszentrum eine Reihe von Neuerungen und Öffnungen. Darunter digitale Konzepte, aber auch Wechselaustellungen, die mit der Dauerausstellung in einen Dialog treten sollen.

Welche Rolle spielen Wechselausstellungen wie aktuell »Tell me about yesterday tomorrow« für Ihre Vermittlungsarbeit?

Unser Ziel ist es, dass das Haus vom Publikum auch als ein Münchner Museum angenommen wird. Also als ein Haus, in das man gerne und regelmäßig geht, weil dort etwas passiert. Seien es Veranstaltungen, Diskussionen oder eben Kunstausstellungen. Hierbei treffen ganz unterschiedliche Kreise aufeinander – etwa unser klassisches Publikum auf ein Kunstpublikum, und sie mischen sich. Das macht auch deutlich, wie sehr Dauer- und Wechselausstellung miteinander im Gespräch stehen. Viele kommen für die Kunstausstellung, nehmen dann auch parallel die historische Dauerausstellung wahr oder umgekehrt. Die beiden Ausstellungen beleben und aktivieren sich gegenseitig in vielerlei Hinsicht. Das Besondere sind die wirklich neuen Werke der Gegenwartskunst, die in Kooperation mit Künstlerinnen und Künstlern entstanden sind. Darunter sind jüngere postmigrantische Künstler*innen sowie solche, die sich schon länger mit der deutschen Geschichte und der Erinnerung an den Nationalsozialismus und Holocaust beschäftigen, die also gewissermaßen Erinnerungsexperten sind. Und dann sind internationale Künstler dabei, die sich etwa mit der Erinnerung von Genoziden oder der Bewältigung kollektiver Traumata, beispielsweise im
kolonialen Kontext beschäftigen.

Das Gemälde »The Deluge« von Kent Monkman, gleich im Eingangsbereich des Foyers, ist in der Hinsicht bemerkenswert. Es handelt von der nordamerikanischen Kolonialgeschichte und der gewaltsamen Vertreibung der Ureinwohner durch europäische Siedler. So eindrucksvoll die Leinwandwandarbeit ist, besteht nicht die Gefahr einer zu starken historischen Inbezugsetzung? Manch einer könnte mit dem Verweis auf die Verbrechen anderer Staaten die deutsche Schuld versuchen zu relativieren.
Ich fürchte, dass diejenigen, die so argumentieren und deutsche Schuld relativieren, diese Ausstellung dafür nicht brauchen. Es geht uns nicht darum, etwas miteinander zu vergleichen, sondern einen historischen und gegenwartsbezogenen Kontext herzustellen. Gewalt und Genozid sind weder ein rein historisches Phänomen, noch ein ausschließlich deutsches. Das ist einfach eine Tatsache, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Und das hat nichts mit Relativierung zu tun, im Gegenteil. Indem wir den Nationalsozialismus auch aus anderen thematischen Kontexten heraus betrachten, nähern wir uns dem Wesenskern dessen, worum es eigentlich geht: Wir müssen uns die Frage stellen, was haben wir kollektiv aus der Geschichte gelernt?

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Kent Monkman: »The Deluge« 2019 | Acryl auf Leinwand, 304 x 259 cm © Courtesy Private Collection, Canada

Was ist ihr persönliches Fazit nach fünf Jahren NS­-Dokumentationszentrum und nach zwei Jahren als Leiterin des Zentrums?
Die Münchnerinnen und Münchner haben unsere Vision für ein offenes, interdisziplinäres Haus sehr gut aufgenommen und ich habe den Eindruck, dass das NS-Dokumentationszentrum so richtig in der Stadtgesellschaft angekommen ist. Dahinter steht natürlich ein Prozess. In den vergangenen zwei Jahren ist es uns gelungen, das Haus noch stärker zu öffnen und unterschiedliche Gruppen anzusprechen, die sich vielleicht nicht auf den ersten Blick adressiert fühlen, weil sie sagen, ich hatte das Thema in der Schule und war bereits in einer Gedenkstätte und brauche das eigentlich nicht mehr. Hilfreich waren in der Hinsicht dabei Kooperationen wie etwa mit dem Literaturhaus oder auch die Zusammenarbeit mit der Städtischen Berufsschule für Farbe und Gestaltung, die zu einer Ausstellung künstlerischer Arbeiten von Schüler*innen führte – eine erste Intervention in der Dauerausstellung.

Was schätzen Sie besonders an Ihrem Haus?
Es wirkt durch seine Architektur nach außen hin nicht sofort einladend, es ist sehr streng, gleichzeitig aber ist es nach innen hin sehr offen. Es gibt keine abgeschlossenen Räume, das heißt, alles was im Haus passiert, hört man, spürt man überall. Egal ob das ein Ausstellungstück ist, das Geräusche macht oder ob das Gruppen sind, die sich im Haus bewegen, dadurch entsteht eine sehr kommunikative Situation. Die Leute sprechen miteinander, das ist gerade auch bei der Wechselausstellung spürbar, es gibt viel Austausch, das ist etwas, das ich sehr schön finde.

Welche Pläne konnten Sie bisher – vielleicht auch coronabedingt – nicht umsetzen? Und was haben Sie in der kommenden Zeit mit dem Haus vor?
Was wir bisher noch nicht umsetzen konnten, da unser Team in der Hinsicht zu klein ist, ist, das Level an Digitalisierung zu erreichen, das ich mir wünschen würde. Gerade coronabedingt machen wir in der Hinsicht allerdings große Schritte, weil vieles andere in den vergangenen Wochen natürlich nicht weiterging. Unsere Überlegung war, wie wir in der Corona-Zeit weitermachen, ohne alle Projekte auf Eis zu legen.

Zum Beispiel haben wir das eigentlich als Salon geplante Gedenken zum Yom HaShoah, dem Nationalen Gedenktag in Israel, gemeinsam mit dem israelischen Generalkonsulat ins Virtuelle verlegt. Via Internet fand sich ein internationales Publikum zusammen, plötzlich konnte man dabei sein, egal, ob man in München, Israel oder den USA lebt. Es gibt in der Hinsicht noch eine große Chance der Öffnung in ganz unterschiedliche Richtungen und Bereiche. Wir planen aber zusätzlich auch das Haus in der Stadt und über die Grenzen Münchens hinaus noch stärker abzubilden. Dazu arbeiten wir zum Beispiel an einer Kooperation mit anderen Ausstellungshäusern, darunter mit Häusern auf dem Land, um die Stadt-Land-Teilung aufzulösen. Auch unser Projekt eines lebendigen Erinnerungsortes im ehemaligen Zwangsarbeiterlager in Neuaubing steht unter diesem dezentralen Gedanken und stärkt die Stadtteilkultur.

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Harald Pickert: Aus der Serie »Pestbeulen Europas. Naziterror in Konzentrationslagern, 1939–45« | 1945 © Courtesy Elke Pickert

Einer der Aufträge des NS-­Dokuzentrums besteht in einer zukunftsorientierten, historisch­politischen Bildungsarbeit. Welche Schwerpunkte ergeben sich für Ihre aktuelle Arbeit auch hinsichtlich der momentanen politischen Situation?
Leider gibt es gerade viele Gründe, warum uns die Arbeit nicht ausgeht. Als unsere Dauerausstellung entstand, gab es die Hoffnung, dass damit dieses besondere Kapitel der Münchner Geschichte nun umfassend bearbeitet ist. Mitte der 90er Jahre bildete sich eine Erinnerungskultur heraus, die im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung stand. Augenblicklich befinden wir uns in einer ambivalenten Situation, da die Geschichte einerseits in die Ferne rückt, andererseits kommen uns die bekannten Themen durch die Aktivitäten der extremen Rechten wieder näher. Für uns stellt sich die Frage: Wie kann man gleichermaßen die Vergangenheit erinnern und die Gegenwart erklären? Das ist ganz zentral in den Formaten, die wir anbieten, den Seminaren und größeren Projekten mit Schulen. Auch das öffentliche Programm, das sich an ein breites Publikum richten, beschäftigt sich natürlich mit der extremen Rechten, mit dem wachsenden Antisemitismus und dem heutigen Rassismus.

Wie geht das NS-Dokumentationszentrum um mit Themen wie Propaganda und Fake News?
Wir versuchen hier eine Orientierung zu bieten, die die Leute von uns erwarten. Die Menschen wollen verstehen, was da aktuell passiert, wie das einzuordnen ist, gerade auch mit dem Blick auf die Geschichte. Das ist natürlich eine schwierige Gratwanderung. Ich glaube, die Diskussion, ob wir uns wieder in den 20ern oder 30ern befinden, ist nicht wirklich relevant, es sind andere Ausdrucksformen, die in der aktuellen politischen Situation bedenklich sind. Etwa die vielen Verschwörungstheorien, die sind zwar insgesamt nichts Neues, aber es ist höchst problematisch, wenn aktuell Demonstranten zu sehen sind, die sich zu Opfern einer angeblichen »Diktatur« stilisieren, indem sie sich einen gelben Stern anheften oder sich selbst in einer Verfolgungssituation wie Anne Frank wähnen. ||

TELL ME ABOUT YESTERDAY TOMORROW
NS-Dokumentationszentrum München
Max-Mannheimer-Platz 1 | bis 30. August
Di–So 10–19 Uhr | Eintritt frei | Ein Begleitheft (182 S., zahlr. Abb.) liegt gratis im Foyer aus Besuch unter Beachtung der Hygiene- und
Abstandsregeln: Gruppen bis max. 5 Personen, insgesamt bis 80 Personen gleichzeitig.

HARALD PICKERT: DIE PESTBEULEN EUROPAS. NAZITERROR IN KONZENTRATIONSLAGERN, 1939–45
Zentralinstitut für Kunstgeschichte
Katharina-von-Bora-Str. 10 (Lichthof Nord, 1. OG) | 2. Juni bis 29. Juli | Mo–Fr 10–18 Uhr
Eintritt frei

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