Heimkino-Boom in Corona-Zeiten: Gerade lassen sich mehr Filme streamen als je zuvor. Aber was gucken, angesichts des Überangebots? Empfehlungen unserer Filmredaktion.

Heimkino im Juni: Geheime Liebe, großes Fressen

Heimkino-Tipp #1: Das große Fressen

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von Matthias Pfeiffer
Die Gefahr, überfressen und sozial abgekapselt in der Wohnung zu sitzen, war in letzter Zeit recht hoch. Die vier Freunde in Marco Ferreris Skandalklassiker »Das große Fressen« begeben sich jedoch mit voller Absicht in diese Situation. Vom tristen Dasein gelangweilt, ziehen sie sich mit einigen Prostituierten in eine abgelegene Villa zurück, um ihr Leben im größtmöglichen Exzess zu beenden. Der Plan ist, sich nach allen Regeln der Ausschweifung zu Tode zu fressen. Als der Film 1973 bei den Filmfestspielen von Cannes seine Premiere feierte, war das Publikum sprachlos, schockiert und angewidert – Sex, Flatulenzen und Exkremente war man bis dato auf der Leinwand eben nicht gewohnt. In der festlichen Glamour-Atmosphäre kochten dann die Emotionen hoch. Die Jury verließ den Kinosaal, »Hängt ihn!«-Rufe gegen Ferreri wurden skandiert. Für solch einen Dreck wird auch noch Geld ausgegeben! Aber könnte es nicht sein, dass sich einige Zuschauer zu sehr in der bissigen Satire wiederfanden? Tut es nicht immer ein bisschen weh, wenn die eigene, behagliche Luxuswelt mit Kot und Müll beworfen wird? In dieser Hinsicht hat »Das große Fressen« nichts an Aktualität verloren. Eben genau deswegen, weil der Film mit ganz eigenen, tabulosen Mitteln vom Hedonismus der Gesellschaft erzählt und keine moralische Abhandlung sein will. Mit so viel Liebe zum Detail und durchschimmernder Tragik wurde das Widerliche selten in Szene gesetzt. »Es ist einer der schönsten Filme über den Tod«, meinte der verantwortliche Filmkomponist Philippe Sarde. Unter den Tonnen von Verdautem und Unverdautem schafft es »Das große Fressen« geschickt, die Balance zwischen Ernst und Übertreibung zu halten. Und ganz nebenbei macht der Film bei seiner ganzen Derbheit – man darf es ruhig zugeben – unglaublichen Spaß, wenn man nicht gerade am Mittagstisch sitzt. ||

DAS GROSSE FRESSEN
Italien, Frankreich 1972 | Regie: Marco Ferreri | Mit: Marcello Mastroianni, Ugo Tognazzi, Michel Piccoli | 130 Minuten | bis 6. Juli auf MUBI

Heimkino-Tipp #2: Sie küssten und sie schlugen ihn

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von Thomas Lassonczyk
Er gilt als das Aushängeschild des französischen Films, als Erfinder der Nouvelle Vague. François Truffaut, der zuvor als Kritiker bei dem renommierten Kinomagazin »Cahiers du Cinema« gearbeitet hatte, legte mit diesem seinem ersten Langfilm den Grundstein für eine neue, andere Art der Inszenierung, einen Stil, der sich mehr auf Figuren und Milieu als auf Handlung und Geschichte konzentriert. In dem autobiografisch gefärbten »Sie küßten und sie schlugen ihn« sucht der 13-jährige Antoine Doinel im Paris der 1950er nach Liebe und Anerkennung, die er weder in der Schule noch bei Familie und Freunden bekommt. Nachdem er beim Diebstahl einer Schreibmaschine erwischt wird, schiebt ihn seine Mutter in eine Erziehungsanstalt ab, aus der er aber wieder ausbricht. »Sie küßten und sie schlugen ihn« ist wunderbare Hommage an das Leben und zugleich kritische Gesellschaftsstudie, zudem eine Liebeserklärung an das Kino, die sich in der Szene manifestiert, wenn Antoine aus dem Schaukasten Szenenfotos klaut und sich heimlich mit seinem Kumpel durch den Hintereingang in den Kinosaal schleicht. Es folgten noch vier weitere Werke, in denen Truffaut seinen stets von Jean-Pierre Léaud verkörperten Protagonisten Antoine Doinel über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren begleitet. ||

SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN
Frankreich, 1959 | Regie: François Truffaut | Mit: Jean-Pierre Léaud, Claire Maurier, Albert Rémy
Länge: 99 Minuten | als DVD, Blu-ray sowie auf Amazon Prime

Heimkino-Tipp #3: Bis dann, mein Sohn

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von Arne Koltermann
Ein kleiner Junge ertrinkt im Rückhaltebecken eines Staudamms. Ein Mann landet im Gefängnis, weil er auf einer geheimen Party Popmusik gehört hat. Ein Paar zieht in den Süden, um die Vergangenheit zu vergessen. Folgenschwere Ereignisse, die das Leben der Menschen in andere Bahnen lenken. Wang Xiaoshuai erzählt in seinem dreistündigen Epos »Bis dann, mein Sohn« von sogenannten kleinen Leuten. Zugleich fächert er dabei die Geschichte Chinas in den letzten vier Jahrzehnten auf. Behutsam und unaufgeregt zeichnet er nach, wie das gesellschaftliche Ganze das Schicksal Einzelner prägt: Einkindpolitik, die Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv, die Öffnung hin zur Marktwirtschaft. Der politisch gewünschte Verrat durch Freunde. Das Verzeihen der Verratenen. Im Mittelpunkt des kürzlich bei Piffl Medien auf DVD und Video-on-Demand erschienenen Films steht das Ehepaar Liyun und Yaojun, das Mitte der 80er Jahre im Wohnheim einer Metallfabrik lebt. Yong Mei und Wang Jingchun, für ihre Darstellung im vergangenen Jahr mit den Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet, spielen sie harmonisch leise, sprechen wenig, auf die Präsenz des anderen vertrauend. Den tragischen Tod ihres Sohnes Xingxing umgibt ein Geheimnis, das sich erst am Ende lüftet und mit dessen bestem Freund Hahohao zu tun hat. Regisseur Wang, der den Film als erstes Werk einer geplanten Heimat-Trilogie konzipiert hat, begleitet das Paar über mehrere Zeitstränge.

Seit dem an Vittorio de Sicas »Fahrraddiebe« angelehnten »Beijing Bicycle« von 2001 ist Wang regelmäßiger Gast europäischer Filmfestivals und gilt als Vertreter der sechsten Generation chinesischer Filmemacher. Er hat auch Drehbücher für Zhang Yimou geschrieben. Doch seine eigenen Regiearbeiten unterscheiden sich stark von Zhangs Opulenz, von dessen Hang zum Melodramatischen. Xiaoshuai setzt mit seinen kargen Innenaufnahmen, langen Einstellungen eher klassisch-sozialkritische Akzente – auch wenn er mit zahlreichen überraschenden Wendungen aufwartet. Für hiesige Beobachter mutet die chinesische Gesellschaft wie ein gigantischer Überwachungsstaat an, durch kollektive Kraftanstrengungen beherrscht. Auch »Bis dann, mein Sohn« spart all das nicht aus – und betont zugleich die Geschicke der darin verborgenen Menschen ||

BIS DANN, MEIN SOHN
China 2019 | Regie: Wang Xiaoshuai | Mit: Wang Jingchun, Yong Mei, Qi Xi | 180 Minuten als DVD und Blu-Ray erhältlich

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