Jetzt bloß nicht abschalten: Sascha Michel setzt auf »Die Unruhe der Bücher« und entwickelt eine Ethik des Lesens, die das eigene Unwissen feiert.

»Die Unruhe der Bücher«: Kontingenz hinter Gittern

 

Ein »entferntes Verstehen« sei das Höchste, was sich von Leserinnen und Lesern erwarten ließe, sagte Paul Celan. Dies allein sei »schon versöhnlich«, sei »Gewinn, Trost, vielleicht Hoffnung«. Lesende könnten den auf einer anderen Raum- und Zeitebene stehenden Dichter niemals ganz erfassen, allenfalls »die Gitterstäbe zwischen uns« greifen. Hier bezog sich Celan auf sein eigenes Gedicht »Sprachgitter« von 1957. Nun könnte man sich an ebendiesem Begriff festbeißen, in Architektur- und Kunstgeschichten nach anderen (Sprach-)Gittern forschen, dazu bei Jean Paul und Goethe weiterlesen. Oder aber sich von Celans Anfangszeile: »Augenrund zwischen den Stäben« zu Rainer Maria Rilkes berühmtem Gedicht »Der Panther« leiten lassen, dessen Blick »vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden [ist], daß er nichts mehr hält«. Ein Unverstandener auch er, mit betäubtem großem Willen und kein Teil dieser Welt.

Mein Gedankengang scheint zu weit hergeholt, vielleicht sogar unverständlich? Prima, dann sind wir mittendrin in dem, was Sascha Michel »Die Unruhe der Bücher« nennt. Lesen, so die zentrale These seines Essays, »ist keine kontemplative Quelle der Ruhe und Entschleunigung, sondern ein Herd der Unruhe und Kontingenz«. In fünf kurzen Kapiteln schreibt der Literaturwissenschaftler und Lektor gegen das Konzept eines narkotisierenden Lesens an, gegen die Idee, dass man sich lesend in fremde Welten, gar gedankliche Wellnessoasen ausklinkt und den Bezug zur Gegenwart verliert. Unter der Prämisse, dass die Fähigkeit zu lesen – egal ob ein Gedicht oder einen Produktaufdruck – zuallererst Teilhabe und Zugang zu Bildung bedeutet, geht es ihm weniger darum, was wir lesen, sondern wie: hellwach für die Zwischentöne, vergleichend, sehnsüchtig, mit Lust an der Überforderung, dem Wissen ums Nichtwissen, stets misstrauisch gegenüber dem eigenen Verstehen.

Leichtfüßig durchwandert Sascha Michel die Gegenwartsliteratur ebenso wie die großen Klassiker. Er bezieht sich auf Theoretiker wie Saussure, Nietzsche, Adorno, Eco, Sontag und Butler, aber auch auf zeitgenössische Literaturkritiker*innen wie Marie Schmidt, Felix Stephan und Ijoma Mangold. Dank der vielen Querverweise und Zitate fungiert sein schmales, dichtes Buch auch als Sprungbrett, von dem aus es sich beherzt in andere Lektüren stürzen lässt. Und zwar am besten in gänzlich unbekannte. Es sei ein Trugschluss, so Sascha Michel, dass man durchs Lesen von Büchern anders als in den sozialen Mediendie eigene Blase verlasse, meist lesen wir »ganz automatisch und unablässig das Gleiche«.

Wer trotz alledem literarische Entschleunigung sucht, dem empfiehlt er beispielsweise die Erstlektüre von »Bouvard und Pécuchet«, »Ulysses«, »Infinitive Jest« oder »Der Mann ohne Eigenschaften«. Romane also, die zu großen Teilen aus Pausen bestehen – und doch in bereichernde Unruhe versetzen. »Die Handlung steht still«, so Sascha Michel, »der Text jedoch läuft rastlos mit seinen Beschreibungen und Kommentaren, seinen Abschweifungen und Vergleichen immer weiter und weiter.« Bis hin zu einem blickdurchlässigen Gartengitter, hinter dem Robert Musils Alter Ego Ulrich über die eigene Teilhabe an der Welt sinniert. ||

SASCHA MICHEL: DIE UNRUHE DER BÜCHER.
Vom Lesen und was es mit uns macht
Reclam, 2020 | 96 Seiten | 6 Euro

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